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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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Börner, Wilhelm: Die Künstlerpsychologie im Altertum
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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0104
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100 WILHELM BÖRNER.

Kunstübung auf Nachahmung hinaus; und das Kunstwerk ist umso
»schöner«, je treuer und treffender die Nachahmung ist.

Nicht unerwähnt bleibe endlich der Rhetor Dion Chrysostomosx)
aus Prusa, der, im Gegensätze zu Cicero, nicht in der Nachahmung
der Phantasievorstellung des Künstlers, sondern in der Darstellung an
sich das Wesentliche des künstlerischen Produzierens erblickt. Die
Bedeutung, die er dem Schöpferischen in der Kunstübung beimißt,
ist so groß, daß er die Künste als Erkenntnisquelle der Götter auf-
faßt. Nach dem Umfange der Darstellungsmittel ist die Rangordnung
der Künste zu bestimmen, und in dieser Hinsicht gebührt der Dicht-
kunst der Vorrang gegenüber den bildenden Künsten. Das Material
der Darstellung des Dichters ist bedeutend differenzierbarer als jenes
der Maler und Bildhauer. Dieser Einteilungsgrund der Künste ist
einerseits ebenso psychologischer Natur (vom Standpunkte des Künst-
lers), wie ihm anderseits objektive Bedeutung zukommt. Wegen der
damit im Zusammenhange stehenden Darlegungen über das Verhältnis
der bildenden Kunst zur Poesie wurde Dion der Vorläufer Lessings
genannt, da er bereits »die wichtigsten Sätze des Fundamentes, auf
dem die Theorie des Laokoon sich aufbaut«, formuliert habe2).

2.

Wie eine Oase in der Wüste nimmt sich in dem auf Aristoteles
folgenden Zeiträume in ästhetischer Hinsicht das Buch »Über das
Erhabene« aus, das, wie man nach den vorsichtig abwägenden und
gründlichen Untersuchungen der letzten Zeit wohl annehmen darf,
nicht von dem Grammatiker Longinos des 3. Jahrhunderts, dem es
bis zum heutigen Tage von manchen noch zugeschrieben wird, son-
dern von einem uns unbekannten Autor, wahrscheinlich aus dem
1. Jahrhundert n.Chr., herrührt3).

Allerdings kommt die Schrift in diesem Zusammenhange nur in
sehr beschränktem Maße in Betracht, da sie einerseits hauptsächlich
die Redekunst behandelt, anderseits, wie schon der Titel besagt, nicht

>) Olymp. Rede § 43 ff. Vgl. Müller, a. a. O. II. Bd., S. 248 ff.

2) C. Ehemann, Die XII. Rede des Dion Chrysostomus. Oymn.-Progr., Kaisers-
lautern 1895, S. 35.

3) Gegen die Autorschaft besonders W. Rhys Roberts in der Einleitung zu seiner
ausgezeichneten griechisch-englischen Ausgabe der Schrift: Longinus, On the Su-
blime. The greek text edited after the Paris manuscript with introduction, translation,
facsimiles and appendices. Cambridge 1899. Für die Autorschaft treten neuerdings
wieder ein: Friedrich Marx in »Wiener Studien« XX (1898), S. 169 ff. und Friedrich
Hashagen in der deutschen Ausgabe der Schrift »Über das Erhabene«, Gütersloh
1903, S. 19 f. Für obige Ausführungen kommen besonders Kap. IX, 3, 15 und
Kap. XV in Betracht. Vgl. Müller, a. a. O. II. Bd., S. 335 ff.
 
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