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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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Meyer, Theodor A.: Kritik der Einfühlungstheorie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0571
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KRITIK DER EINFUHLUNGSTHEORIE. 567

wird hinaustreiben lassen. Die vollständige Einfühlung ist ein Aus-
nahmezustand, und es ist gut, daß er nur in ästhetischen Feierstunden
eintritt. Er steht an der Grenze des Ästhetischen. Das eigentliche
Kennzeichen des ästhetischen Zustands ist die Freiheit. Man verfällt
keiner der im Kunstwerk dargestellten oder durch es erregten Stim-
mungen ausschließlich, sondern wahrt sich die Fähigkeit von einer
zur anderen weiterzugehen. Es stört nicht, von einer rührenden Szene
zu einer komischen, von einer schmerzlichen zu einer heiteren fort-
geführt zu werden. Die vollständige Einfühlung dagegen ist ein Aus-
druck höchster Ergriffenheit, in der die Seele ganz im Bann der Stim-
mungen ist, die ihr aus dem Kunstwerk entgegentreten; beherrscht
von der Übergewalt der Gefühle verliert sie ihre Freiheit. Es wider-
steht ihr herunterzusteigen von der seligen Höhe ihrer Wonnen, sie
ist viel zu sehr berauscht von der augenblicklichen Stimmung, als daß
sie sie ohne weiteres ablegen und gegen eine andere gleichgültigere
vertauschen könnte. Wer mit Isolde die Seligkeit über weltlicher Ver-
einigung durchgekostet hat, der steht am Ende seiner ästhetischen
Aufnahmefähigkeit. Er mag sich durch nichts die Feiertagsstimmung
zerstören lassen. Die Alten hatten Freiheit genug, nach dreimaliger
tragischer Erschütterung die Scherze und Derbheiten eines Satyrspiels
über sich ergehen zu lassen. Auf Tristan und Isolde oder auf Parsifal
ein Satyrdrama — kann man sich etwas Entsetzlicheres denken?
Wagner ist wie kein anderer im Besitz des Zauberbanns, der zum
vollen Aufgehen der Seele im Kunstwerk zwingt, und dieser Zauber
ist gerade in den Schlußszenen der beiden Werke so mächtig, daß
alle ästhetische Freiheit dahin ist. Die vollständige Einfühlung ist
daher ein ästhetisches Höhen- und Grenzerlebnis, das seiner Natur
nach nur selten erblüht und das bei öfterem Eintreten sich selber zer-
stören müßte. Es heißt ebenso das Wesen des Einfühlens, wie über-
haupt die Natur des Ästhetischen und des Schönen verkennen, wenn
man das Einfühlen zur normalen Form des ästhetischen Erlebens
machen will.
 
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