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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0138
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134 BESPRECHUNGEN.

der Achtung für die Verbrecher, mit denen er im Zuchthause zusammentraf; denn
sie sind durch ihre lebendige Erkenntnis, die nur durch das tragische Erlebnis ge-
wonnen wird, geistig bedeutend reicher als der gewöhnliche Mensch; dies stimmt
mit folgendem Fragment von Schestow überein: »Die Gesetzlosigkeit ist die erste
und wesentliche Lebensbedingung« ... sie »ist die schöpferische Tätigkeit« 1). Und
so kamen Nietzsche2) und Dostoewsky auf ganz verschiedenen Wegen zu der
Apotheose der Grausamkeit, die der russische Dichter in seinen »Memoiren aus
unter der Erde« ausgesprochen hat3). Einerseits muß der tragische Held egoistisch
sein, darf auf niemand Rücksicht nehmen, wenn er seinen eigenen Weg gehen soll,
anderseits kann und darf er auf das Mitleid der Mitmenschen keinen Anspruch
machen; er muß vielmehr sein Leid einsam austragen; dann wird er zu einer neuen,
lebendigen Erkenntnis kommen. Nur die durch das Leben, das tragische Erlebnis
gewonnene Philosophie, meint Schestow, kann uns das bunte, vielgestaltige Leben
erklären. Will die Philosophie die Wissenschaft vom Leben sein, so muß sie nicht
von Gelehrten, sondern von Dichtern, die zusammen mit ihren Helden vom tragischen
Erlebnis ausgehen, betrieben werden. Der Dichter ordnet die Welt nicht nach dem
naturwissenschaftlichen Gesetze von Grund und Folge, sondern fragt nach dem
»Wozu« der Ereignisse des menschlichen Lebens. Für jeden noch sp, verworrenen
tragischen Fall findet der Dichter einen gewissen inneren zweckmäßigen Zusammen-
hang. Daher hat man bei der Analyse jeder Tragödie nach dem ihr innewohnenden
Zusammenhange zu suchen; Schestows Buch »Shakespeare und sein Kritiker Brandes«
ist eben die Anwendung seines Prinzips der kritischen Analyse, das mit seiner Auf-
fassung des Tragischen eng verbunden ist; dabei erscheint selbstverständlich die
kritische Methode Brandes' als verwerflich. Aber dieses Werk von Schestow hat
nicht nur ein methodologisches Interesse: es gibt zugleich eine ganz neue Auf-
fassung von Shakespeares Tragödien, der gegenüber Brandes' Darstellung leer
und haltlos erscheint. Daher will ich den Inhalt dieses Werkes ausführlicher
angeben.

Zunächst greift Schestow die Methode Brandes' im allgemeinen an; diese Me-
thode wurzelt im wesentlichen in Taine. Taine ist der Vertreter der wissenschaft-
lichen Kritik in der Literatur, d. h. jener wissenschaftlichen Kritik, die analog den
Naturwissenschaften konstruiert wird.

Das ganze Bestreben des 18. und 19. Jahrhunderts ging darauf aus, die ge-
samten Erscheinungen des geistigen Lebens in Religion, Moral, Politik auf das Ge-
setz von Grund und Folge zurückzuführen, aus dem die Naturwissenschaften die
Welt der äußeren Erscheinungen erklärten. Und Taine wandte dieses Gesetz erfolg-
reich (für seine Zeit) auf die Literatur an. Worin besteht aber dieses Gesetz von
Grund und Folge naturwissenschaftlich betrachtet in Anwendung auf Erscheinungen
des individuellen geistigen Lebens, das ja den Gegenstand der Dichtung bildet?
Schestow erläutert dies an folgendem Beispiel. Ein Ziegelstein ist von der Kranz-
leiste eines Hauses heruntergefallen und hat einen Menschen zum Krüppel gemacht.
Vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus ist nichts gesetzmäßiger als das
Fallen eines Ziegelsteins. Obwohl wir die Ursache des Falls des Ziegelsteins

') »Apotheose der Bodenlosigkeit« 1905, S. 113.

2) Darin sieht Schestow das Wesentliche der Philosophie Nietzsches; auch in
seinem Buche: »Das Gute in den Lehren Graf Tolstoys und Nietzsches« (»Philo-
sophie und Lehre«) 1907, vertritt er diese Ansicht.

3) Diese Auffassung Dostoewskys steht im gänzlichen Widerspruch mit denen
aller übrigen Kritiker dieses Dichters.
 
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