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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Fischer, Otokar: Über den Anteil des künstlerischen Instinkts an literarhistorischer Forschung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0102

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V.

Über den Anteil des künstlerischen Instinkts
an literarhistorischer Forschung').

Von

Ottokar Fischer.

Alle geistige Bewegung ist Kampf. Leben heißt Gegensätze über-
brücken, Kultur beruht auf einem nimmermüden Kräftespiel. In waffen-
brüderlicher Eintracht scheinen zwar verwandte Tendenzen einem ge-
meinsamen Ziele zuzustreben, aber in der Seele der einzelnen Kampfes-
genossen klaffen Wunden, welche nicht vernarben. In einem gegebenen
Zeitpunkte bewegen sich zweierlei im Ausdruck verschiedene, doch
als homogen und seelenverwandt gefeierte Kulturfaktoren auf identischen
Bahnen; Schulter an Schulter pflegen Kunst und Wissenschaft über
Kunst, Schaffensdrang und Kritik nebeneinander zu kämpfen: doch bei
genauerem Zusehen geben sie sich als geborene, geschworene Feinde
zu erkennen, durch deren Zusammenstoß erst die rechte Entwicklung
erzeugt wird. Die treuen Freundschaften zwischen verschiedenartig
veranlagten Männern gehören zu den unentbehrlichsten Erscheinungen
der Literaturgeschichte, und bei etwaigen Entzweiungen spielen äußere
Umstände und Zufälligkeiten eine wichtige Rolle: immerhin bliebe zu
fragen, ob es nicht ein überpersönliches Erlebnis zu konstatieren gibt
in den Zerwürfnissen und Freundschaftstragödien zwischen Hebbel
etwa und Emil Kuh, zwischen Gottfried Keller und Baechtold, zwischen
Nietzsche und Erwin Rohde; ob hier, trotz mannigfacher begleitender
Ursachen und Zwischenfälle, nicht etwas vorliegt, was an die Psycho-
logie, wo nicht an eine Metaphysik des Künstlerproblems rühren mag;
ob sich da nicht Folgen einer ursprünglichen Divergenz abgespielt
haben, die sich durch Treue, Ergebung, Dankbarkeit, Begeisterung
über ihr eigenes Dasein täuschen wollte und doch nicht imstande war,
die Tatsache wegzuleugnen, daß ein Schöpfer einen instinktiven Ab-
scheu empfindet vor dem Zerfasern seiner inneren Absichten, vor dem
Anblick seines richtigen oder verzerrten Spiegelbilds, während ein noch
so selbstloser Kritiker über das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit,

x) Vortrag, gehalten am 7. Oktober 1913 auf dem Berliner Kongreß für Ästhetik
und allgemeine Kunstwissenschaft.
 
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