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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Hernried, Erwin: Weltanschauung und Kunstform von Shakespeares Drama
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0515

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504 ERWIN HERNRIED.

men. Das Leben wird gelebt, weil es da ist, und in der Form, in
der wir dareingestellt sind. Die »Rätsel« der Welt werden nicht als
Rätsel genommen, denn dann stünde ja hinter ihnen eine Lösung,
sondern als Tatsachen, die keine Erklärung verlangen dürfen und keine
zu erwarten haben. Der Zufall bleibt, was er ist, und erhält keine
mystische Rolle zugewiesen. Dasein durch Geburt, Nichtsein durch
Tod; Überschwang jugendlicher Leidenschaft, altern und erschlaffen;
Sucht nach den Schätzen der Welt, Ehrgeiz und Machtgier; feindliche
Kräfte, ringen und überwinden; Güte und Bösartigkeit, Geradheit und
Hinterlist; alles dies ist da und selbstverständlich und fragt nicht nach
seinem Zweck. Über das Selbstverständliche erfolgt kein Werturteil.
Aber auch das Werturteil an sich ist etwas Selbstverständliches, es ist
wirklich da und das berechtigte ethische Gefühl darf nicht fehlen.
Über das Dasein wird nicht spekuliert. Aber die Spekulation ist da
und ist mindestens so reell wie die Krankheit oder wie der Traum.
Das Wunder der Schönheit wird (in den Sonetten) angebetet, aber es
soll nicht erklärt werden, wie Wunder überhaupt und das des Lebens
zuerst. Unvorhergesehene Schiebungen und Zusammentreffen, Wechsel-
zufälle im Kriegsglück und in der Macht der Großen: alles erhält
»Sinn« oder Sinnlosigkeit nicht durch eine metaphysische Logik zu-
gewiesen, sondern schlechthin durch sein Dasein, die Gunst und den
Adel des Augenblicks.

Das Geschehen in Shakespeares Drama hat keinen anderen Sinn
als den, sich aus einem Kräfteverein zu ergeben. Vollends enttäuscht
Shakespeare, wenn man nach seiner Auffassung der Geschichte fragt
und darunter eine Entwicklung des irdischen Geschehens versteht, in
der die zeitlichen Vorgänge, gleichgültig, ob mit Löffeln oder mit
Schüsseln geschöpft, letzthin einem Woher und Wohin dienstbar ge-
macht werden. Shakespeare kennt nichts, was man Theodizee nennt.
In seinen Stücken gibt es keine unendliche Vorsehung, Weisheit, Ge-
rechtigkeit. Die Frage, zu welchem Ende dies geschah — der Tod
Cäsars etwa, oder der Zerfall der Yorks — die Frage findet bei ihm
keinen Ansatzpunkt. Man kann eben, rückwärts, nicht vorwärts ge-
wandt, nur sagen: weil es so kam. Das heißt: diese lebendigen Kräfte
in Reiz und Willen, in Charakteren und Machtstellungen trafen mit
diesen Umständen und allenfalls mit den toten Kräften des Zufalls so
zusammen. Das entscheidende ist letzten Endes die Seinsfrage. Eine
Entwicklung, in deren Dienst sich das einzelne Geschehnis stellte, gibt
es nicht. Die Kräfte des Dramas sind wie die der Welt immer voll
und ganz. Für Shakespeares Historien (den Julius Cäsar eingerechnet)
ist es darum völlig gleichgültig, ob eine hervorragende Gestalt, die im
vollen Licht zweier Akte gestanden hat, plötzlich verschwindet und
 
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