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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Panofsky, Erwin: "Das Problem des Stils in der bildenden Kunst"
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0468
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BEMERKUNGEN. 4ß|

leuchtend, daß er auch die Begriffe, durch die man das Wesen eines Stils zu be-
stimmen versucht, in zwei grundsätzlich verschiedene Gruppen trennen muß: auf
der einen Seite die rein formalen, die sich nur auf die »Seh- und Darstellungsweise«
einer Epoche beziehen, auf der anderen die sozusagen gehaltlichen, die die Eigen-
art dessen bezeichnen, was (innerhalb jener allgemeinen darstellerischen Möglich-
keiten) in den Hervorbringungen einer Epoche, eines Volkes oder einer Persön-
lichkeit zum Ausdruck kommt.

Dem philosophisch-programmatischen Teil, in dem diese Unterscheidung ge-
macht wird, läßt Wölfflin einen praktisch-historischen folgen, indem er sie an
einem speziellen Beispiel erläutert: er macht das Wesen und die Anwendung
derjenigen Begriffe, die ihm als rein formale gelten, dadurch klar, daß er den Ent-
wicklungsprozeß vom Höhepunkt der cinquecentistischen Kunst bis zum Höhepunkt
der seicentistischen durch fünf Begriffspaare charakterisiert, die ganz ausschließlich
die optisch-darstellerischen Grundlagen dieser beiden Stilepochen bezeichnen sollen :
»Die Ausbildung der Linie und die Entwertung der Linie zugunsten des Flecks
(linear-malerisch); die Ausbildung der Fläche und die Entwertung der Fläche zu-
gunsten der Tiefe; die Ausbildung der geschlossenen Form und die Auflösung in
die freie, offene Form; die Ausbildung eines einheitlichen Ganzen mit selbständigen
Teilen und das Zusammenziehen der Wirkung auf einen oder auf wenige Punkte
(bei unselbständigen Teilen); die vollständige Darstellung der Ding$/(Klarheit im
Sinne des gegenständlichen Interesses) und die sachlich unvollständige Darstellung
(Klarheit der Erscheinung der Dinge).«

Diese zehn Kategorien sollen — das muß besonders betont werden — inner-^***'
halb unsrer Erörterung, die eine rein begriffsbestimmende sein will, nicht in ihrer
empirisch-historischen Berechtigung, sondern nur in ihrer methodisch-philo-
sophischen Bedeutung diskutiert werden1). Wir fragen nicht, ob es gerecht-
fertigt ist, die Entwicklung vom Cinquecento zum Seicento als eine Entwicklung
vom Linearen zum Malerischen, vom Flächenhaften zum Tiefenhaften usw. aufzu-
fassen, sondern wir fragen, ob es gerechtfertigt ist, die Entwicklung vom Linearen
zum Malerischen, vom Flächenhaften zum Tiefenhaften als eine bloß formale zu be-
zeichnen; wir fragen nicht, ob Wölfflins Kategorien — die hinsichtlich ihrer Klar-
heit und ihrer heuristischen Zweckmäßigkeit über Lob und Zweifel erhaben sind —
die generellen Stilmomente der Renaissance- und Barockkunst zutreffend bestimmen,
sondern wir fragen, ob die Stilmomente, die sie bestimmen, wirklich als bloße Dar-
stellungsmodalitäten hinzunehmen sind, die als solche keinen Ausdruck haben, son-
dern »an sich farblos, Farbe, Gefühlston erst gewinnen, wenn ein bestimmter Aus-
druckswille sie in seinen Dienst nimmt.«

II.
1. »Auge« und »Gesinnung«. Wenn Wölfflin zugibt, daß die Art, wieRaf-
fael und Dürer ihre Linien führen, aus ihrer inneren »Gesinnung« verständlich wer-
den kann und daher Ausdruckswert besitzt, dabei aber bestreitet, daß die Tatsache,
daß Raffael und Dürer Linien führen (anstatt Flecken nebeneinander zu setzen),
auch von einer inneren Gesinnung bedingt sein könnte (nämlich von der gesamten
Epoche), und daher auch Ausdruckswert besitzen würde — wenn er die Art, wie

!) Wir können daher auch nicht darauf eingehen, in welcher Weise Wölfflin
die Subsumtion der historischen Erscheinungen unter diese Begriffe vornimmt, es
ist, was diese Frage angeht, auf den Vortrag selbst zu verweisen, sowie auf einen
Aufsatz im »Logos«, 1913, S. 1 ff. »Über den Begriff des Malerischen«, der auch
im »Kunstwart« XXVI, S. 104 ff. abgedruckt ist.
 
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