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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 11.1916

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BESPRECHUNGEN. 447

einen Ausnahmezustand, der nur in Feierstunden eintrete und an der Grenze des
Ästhetischen stehe (26, 27). Dies mißverstandene Hereinziehen des realen Gefühls
läßt die Lehre von der Einfühlung auf die Stufe der von Goldschmidt so nachdrück-
lich und mit so gutem Erfolge bekämpften Affektenlehre heruntersinken. Wenn es
wirklich wahr ist, daß das Sicheinfühlen in das ästhetische Objekt nur statthaben
kann auf Grund des realen Gefühls, dann ist eine ganze Einfühlung nicht mehr
möglich bei polyphoner Behandlung (16) und beim Zusammenklingen mehrerer
Themen wie in der Fuge (17). Dann bietet die Musik als eigentliche Stimmungs-
kunst der Einfühlung zwar das günstigste Feld (26), läßt aber ihre restlose Ver-
wirklichung doch nur ausnahmsweise zu (27). Dann hat Richard Wagner in der
späteren Zeit seines Schaffens das Zusammensingen mehrerer Personen nur deshalb
abgelehnt, weil er in höherem Grade als andere Künstler auf die Anteilnahme
des realen Gefühls rechnet (17, 25—26). Dann versagt die Einfühlung bei allen
jenen Stellen, die Volkelt als »gefühlskahle« bezeichnet, ferner beim Charakteristi-
schen (18—19) und beim Erfassen des Körperlichen im Sinne des Ausdrucks orga-
nischer Kraft (19—20).

Die für andere ästhetische Systeme so wichtige Frage, wie wir überhaupt dazu
kommen, dem Objekt unser eigenes Gefühl zu leihen, muß bei Goldschmidt ganz
außer Betracht bleiben (21). Unter Hinweis auf Max Deri nimmt er einen grund-
legenden Dualismus des ästhetischen Erlebens in der Weise an, daß er gerade das,
was das eigentliche Geheimnis alles ästhetischen Erfassens und Verstehens bildet
— das unauflösliche Ineinander von Anschauen, Fühlen und Urteilen — in ein
Nacheinander verwandelt. Jedem Wirksaniwerden des Gefühls geht nach seiner
Meinung ein auf das »Leben« des betrachteten Gegenstandes gerichtetes intuitives
Erkennen voraus, dem sich erst die »anschauliche Vorstellung« des Gefühls-
inhaltes anschließe (22—23). Dieses »anschauliche Vorstellen« des Gefühlsinhaltes
trennt Goldschmidt dann auf Grund wenig geklärter psychologischer Voraus-
setzungen noch einmal vom Mitfühlen und dieses vom Einfühlen (20, 21, 23—25,
27). Auf diesem Wege gelangt er unter anderem zur Annahme einer rein sinnlich-
schönen Musik, die überhaupt keinem Gefühlsgehalt entspreche (25) und zu der
er wie Dessoir auch Bachsche Fugen rechnen zu wollen scheint (15—16, 24 bis
25, 64).

Die Bedeutung des Goldschmidtschen Buches liegt weniger in diesen an die
jüngste Ästhetik anknüpfenden Erörterungen als in dem von ihm auf Grund seiner
hervorragenden Belesenheit und kunstgeschichtlichen Schulung entworfenen Bilde
der Musikästhetik des 18. Jahrhunderts, die ja den soeben berührten Fragen noch
fern steht. Vielleicht läßt sich seine weitverzweigte, überaus reichhaltige Dar-
stellung in der folgenden Weise zusammenfassen, die sich aus Gründen der Über-
sichtlichkeit und mit Rücksicht auf die so viel größere Gedrängtheit des Stoffes
nicht ganz an die von ihm selbst gewählte Einteilung hält:

In den oberen Kreisen Frankreichs herrschte am Ende des 17. Jahrhunderts
die höchste Einschätzung des Intellekts, Mißtrauen gegen die Regungen des Ge-
fühls und völlige Verständnislosigkeit für das Verhältnis beider zueinander (33).
Diese Auffassung übertrug sich auch auf die Ästhetik, die sich der vermeinten All-
macht des Verstandes blind unterwarf — eine Anschauungsweise, die man mit dem
jüngst im Kriege gefallenen Ecorcheville Objektivismus nennen kann. Die Kunst
wurde zwar als »fiction« betrachtet, aber unter die Forderung der Nachahmung
eines in der Natur gegebenen Vorbildes gestellt. Als ihr allgemeinstes Prinzip galt
die Deutlichkeit. Klarheit und Bestimmtheit, die beiden Hauptmerkmale des Wahren,
 
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