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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0436
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BESPRECHUNGEN.

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Verständnis dessen, was das Wesentliche der Baukunst ist, mag auch das Urteil in
einzelnen Fällen allzu scharf sein, wie beim Warenhaus Wertheim oder beim Leip-
ziger Bahnhof oder bei der Essener Arbeiterkolonie Margaretenhöhe. Anderseits
hätte bei der üppigen Ausstattung der Riesenschiffe der Hamburg-Amerika-Linie
neben ihrer unzweifelhaften Rentabilität auch ihre geschmacklose Überladenheit und
die dem Wesen eines Schiffes widersprechende Aufmachung erwähnt werden sollen.
Dadurch, daß bestimmte Bauten aufs Korn genommen werden, behält die Dar-
stellung überall Frische und Lebendigkeit, und den Verzicht auf systematische Voll-
ständigkeit wird man trotz gelegentlich zufällig erscheinender Auswahl hinnehmen,
dankbar für das Gefühl des freien künstlerischen Schweifens und Streifens. In der
Form des Buches ist von dem Geiste trockener Zweckmäßigkeit oder von jener,
zuweilen unter technisch begeisterten Architekten anzutreffenden, absichtlichen und
in ihrer Redeweise banausischen Nüchternheit nichts zu spüren. Die Schrift ist
temperamentvoll geschrieben, wenn auch gelegentlich etwas feuilletonistisch. Sie
liest sich kurzweilig in ihrem vielfach sarkastischen Stil. Vor allem aber gibt sie
mehr, als der Titel verheißt, nämlich eine Anleitung zum Sehen von Architektur.
Sie schärft auch dem geschulten Betrachter noch den Blick, verfeinert das Empfinden
namentlich für das organische Gefüge in der Baukunst im Gegensatze zu dem bloßen
Zusammensetzen von Bauteilen. Dieser Grundgedanke ist immer wieder betont:
Bauen ist Fügen, ist organisches Gestalten. Auf die Proportionen der Teile wird
stets von neuem hingewiesen, auf die durchsichtige Gliederung des Neben- und
Übereinander, auf die Klarheit des Grundrisses, auf das Verhältnis von Stütze und
Last im Aufbau. Das bloße Aneinanderrücken verschiedener Komplexe, die kein
Ganzes, keinen Zusammenhang ergeben, das Verschiebbare, die bloße Berührung
statt der Verbindung wird immer wieder als Mangel aufgezeigt; die Klammern, die
die Teile zusammenhalten, die Gelenke werden unterstrichen und endlich auch das
Verhältnis des Schmuckes an den einzelnen Teilen eingeschärft, daß z. B. nicht
etwa Reichtum neben Kahlheit stehe. Das Vorbereitetsein, das Herauswachsen der
oberen Teile, das Entwickeln gehört zum guten Bauen; alles, was aneinandergeklebt
erscheint, was lose nebeneinandersteht, was hart in Linien und Flächen zusammen-
stößt, ist schlechte Baukunst. An diesen Unterschieden wird das Wesen des eigent-
lichen baulichen Könnens klargemacht. In der Tat bekommen ja Bauten, die in
diesen Hinsichten mangelhaft sind, etwas Kulissenhaftes, Theatermäßiges, Steinbau-
kastenartiges oder Provisorisches, jedenfalls etwas gänzlich Unmonumentales. Das
Buch legt bestimmte und hohe Maßstäbe an, und sein Niveau in dieser Hinsicht
ist respektabel. So gewährt es nicht nur Genuß, die Schrift zu lesen, sondern auch
einen Ertrag sowohl für den, der erst architektonisch zu sehen und zu fühlen lernen
soll, wie für den, der das nicht mehr nötig hat, aber für jede Bereicherung und
Verfeinerung des Blickes dankbar ist.

Leipzig. Erich Everth.
 
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