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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0280
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276 BEMERKUNGEN.

sicherlich als solches mit praktischen Erwägungen nichts zu tun hat, so sehr auch
der Ursprung dieser Ornamantik mit Gesetzen des Praktischen verwoben sein mag.
Positiv gesprochen, zeigt sich in ästhetischen Kurven das freiwillige Befolgen des
ökonomischen Prinzips, ferner das Streben, dem Auge nach den Gesetzen des
menschlichen Körpers Doppelseitigkeit zu geben und zu gleicher Zeit in den Linien
Bewegungsformen darzustellen, die angenehme Wirkung haben. Die Kurven oder
die Farben oder die Töne bei Etüden, die beiläufig die Verpflanzung des Orna-
mentalen ins Musikalische sind, gehorchen den Gesetzen der Spannung und Lösung
der körperlichen Reize, ferner dem Bedürfnis des Organismus nach Reichhaltigkeit
der Einwirkung, nach Funktionslust und nach Kontrastwirkung. Diese Gesetze
bieten jedoch nur die Wesenheiten des Rahmens, und nie und nimmer wird diese
ästhetische Regelmäßigkeit künstlerische Wirkung im eigenen und echten Sinne her-
vorrufen. Denn ihr fehlt der wesentliche Umstand, das eigentliche Kriterium des
Künstlerischen, und das ist gerade die von Kant verpönte und von einer
asketischen und lebensfremden Ästhetik abgewiesene Begierde.

Man versuche einmal die Wirkung des Kunstgewerblichen bei sich selber zu
beobachten. Der Unbefangene wird nach längerer Besichtigung eine eigentümliche
Abspannung empfinden, ein Gefühl nahe der Langweile, weil eben alles Anschauen
dieser Art uninteressiert bleibt, weil der Kontrapunkt fehlt, das Bewegte der
Empfindung, die beim echten Kunstwerk nicht in sich ruhend ist, sondern wie bei
allen starken Reizen motorische und vasomotorische Wirkungen hervorruft. Man
versuche es einmal, ein solches Ornament wirklich fortlaufend zu verfolgen. Binnen
kurzem wird sich vollkommener Überdruß einstellen und ein gleichsam physiologi-
scher Ärger, der uns zwingt an etwas anderes zu denken und aus der Regelmäßig-
keit, aus dem Anblick der einschläfernden Ranken, aus diesem leeren Wohllaut ins
Lebendige und »Interessierte«, mit einem Worte: in die Begierde zu flüchten. In
diesem Moment liegt für uns der wesentliche Unterschied und die Grenzlinie des
Kunstwerks. Das Ornament erweckt Behagen, ebenso die gut gegliederte prosaische
Rede mit der richtigen Abwechslung der Vokale und der »normalen« Gliederung
des Satzbaus. Das Kunstwerk dagegen ist niemals »normal«, sondern
immer wächst es aus den Elementen des Behagens zu dem Triebhaften, Elementaren
und zu der Dämonie, die auch das Unlustvolle, das Unharmonische, ja das Peinliche
für sich zu erobern vermag.

Was ist Begierde? Sie bedeutet eine Triebäußerung, verbunden mit einer Vor-
stellung. In dieser Gemeinschaft ergibt sich zu gleicher Zeit eine Doppelseitigkeit.
Die Triebäußerung ist schmerzhaft und entladet sich in dem Schrei des Kindes nach
der Mutterbrust und in den Qualen des Liebenden. Die Vorstellung, der geistige
Anblick des Begehrten dagegen ist lustvoll und bewirkt die seligen Ekstasen bei der
sich nähernden Erfüllung, die vorwiegende Freude an der Gewährung, an dem
Anteros, der Gegenliebe, wie sie die Griechen geistvoll als Gegenwert zum Eros
verkörperten. So mischen sich Lust und Unlust, Freude und Leid, Kühnheit und
Angst, Streben nach dem Wirklichen und phantastisches Ausgreifen in der Begierde,
die nach unserer Ansicht zum Kunstwerk leitet. Aber noch ist der exakte oder
zum mindesten der Indizienbeweis nicht geführt, daß es sich tatsächlich bei der
künstlerischen Empfindung im Gegensatze zur ästhetischen im allgemeinen um Be-
gierde handelt. Vor allem ist die Einhaltung der Grenze zwischen Gefühl und Be-
gierde sehr schwierig, Leiden setzt sich in die Begierde der Tränen um, wie sie
schon Homer genannt hat und in den Wunsch, das Leidvolle auszuschalten. Lust
wieder mündet in Gelächter, oft auch in Tränen oder in frohmütige Bewegung und
in die Begierde der Aneignung. Das Wesentliche des Gefühls im Gegensatze zur
 
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