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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Hesse, Otto Ernst: Psychoanalyse und Kunstphilosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0332
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328 BEMERKUNGEN.

Psychoanalyse und Kunstphilosophie1).

Von
Otto Ernst Hesse.

Da durch den Aktivismus das Verhältnis des Künstlers zur Kultur und allge-
meiner das Verhältnis von Kunst und Kultur in eine neue Erörterung gerückt ist,
darf man dieser Frage einmal gründlicher, als es in der Tagesliteratur möglich ist,
nachgehen. Zeiten des 18. Jahrhunderts scheinen zurückzukehren, und manche
dieser Verhandlungen über den Kulturwert der Kunst erinnern an die Jahrzehnte,
in denen die Ästhetik A. Q. Baumgartens aus den Leibniz-Wolffschen psycholo-
gischen Anschauungen heraus jene Frage brennend machte. Die Aufklärung be-
trachtete die Kunst als einen Weg zur Erkenntnis, faßte sie also als Mittel zum
Zwecke auf. Noch Schiller entgleiste sein großes Lehrgedicht »Der Künstler«:, das
ursprünglich ein Ruhmeslied der Kunst werden sollte, in diese Auffassung: »Nur
durch das Morgentor des Schönen dringst du in der Erkenntnis Land«, und auch
seine Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« vermochten den Zwie-
spalt zwischen der Selbstzwecklichkeit der Kunst und ihrer Mittelzwecklichkeit nicht
aus dem Wege zu räumen. In Hegels Rationalismus wurde dann die Kunst wieder
ganz Magd der Philosophie, bis der Künstler Hebbel ihr ihren Selbstzweck zurück-
gab, nicht nur in seinen polemischen Aufsätzen, sondern viel mehr noch in den knappen
Aufzeichnungen seiner Tagebücher. Hier wird das Problem auch zum ersten Male,
man möchte sagen biogenetisch erkannt, und manche dieser Bemerkungen sind un-
mittelbare Vorerkenntnisse der Psychoanalyse, die diese Frage neu angeschnitten und,
wenn auch bei weitem nicht gelöst, so doch zum mindesten geklärt hat.

Ohne eine Würdigung der Vorstöße, die diese jüngste Wissenschaft, die noch
einen Kampf um ihre Existenz führen muß, auf das Gebiet der Kunstpsychologie
gemacht hat, läßt sich die Frage nach den Kulturfunktionen des Künstlers und
insonderheit des Wortkünstlers nicht mehr beantworten. Keimhaft findet sich diese
geisteswissenschaftliche Anwendung der psychoanalytischen Erkenntnisse in zwei
kleinen Büchern, in Otto Ranks »Der Künstler« (Wien-Leipzig, 1918) und Wilhelm
Stekels »Dichtung und Neurose« (Wiesbaden, 1909). Rank, erhaben über jede Stoff-
benutzung, leitet seine Ansicht so von oben her ab, daß man oft einen Ärger unter-
drücken muß, um diesen z. T. gewiß in die richtigen Tiefen führenden Seiten
gegenüber vorurteilslos bleiben zu können. Stekel, der, etwas selbständiger, von
Freud abrückt und sehr geschickt ein bedeutsames Material aus Orillparzer ver-
wendet, schließt seine wohlbegründete Arbeit mit guter Skepsis. Beide von der-
selben Seite kommenden Forscher widersprechen sich gegensätzlich in den letzten
Schlußfolgerungen, die schließlich mit veränderter Ausdrucksweise wieder den alten
Zwiespalt aussagen, den Schiller schon nicht hinwegdiskutieren konnte.

Infolge der biologischen Entwicklung des Menschen — so etwa stellt sich die
Grundlage der Psychoanalyse dar — entstand aus der Urenergie der Organismen,
der Libido, im Menschen das, was wir Bewußtsein nennen, zunächst als Schutz-
waffe gegen eine Fülle von Trieben, die im Laufe dieser Entwicklung aus Rücksicht
auf die Umwelt nicht mehr zur Auswirkung gelangen konnten, Unlust erregten und
auf einem Umweg zu Lust umgeformt werden mußten. Denn der psychische

') Dieser Aufsatz ist entnommen einer umfangreichen druckfertigen Handschrift,
die den Titel führt: »Der Dichter. Beiträge zu einer Technik des Erlebens.«
 
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