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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Adama van Scheltema, Frederik: Beiträge zur Lehre vom Ornament
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0409
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BEITRÄGE ZUR LEHRE VOM ORNAMENT. 405

Erachtens auf einem grundsätzlichen Verkennen der Semperschen Ge-
danken beruht und diese ihres geistigen Inhalts entkleidet1), spielen
bekanntlich die geometrischen Verzierungen der neolithischen Gefäß-
kunst und die in den textilen Techniken, vor allem in der Korbflechterei,
automatisch erzeugten Muster die Hauptrolle. Bei den späteren, ge-
bogenen Linienmotiven, dem Kreis, der Spirale usw., könnte zur Not
noch an eine primitive Nachahmung von natürlich-konkreten Gegen-
ständen — Sonnenscheibe, Schneckengehäuse, Pflanzenranken usw. —
gedacht werden; für diese geradlinigen Verzierungen dagegen schien
es nicht möglich, eine annehmbare Vorlage in der Natur aufzutreiben.
Hier füllte die technische Erklärung eine Lücke aus, indem sie es er-
möglichte, nun auch diese streng geometrischen Muster als Nach-
ahmungsprodukte aufzufassen und damit die gesamte ornamentale und
bildende Kunstentwicklung von dem, allerdings für die höhere Kunst
inzwischen glücklich überwundenen, Gesichtspunkt der Nachahmung
aus zu betrachten. Zugleich schien dadurch, daß man die Technik als
Wechselbalg in die Wiege der neugeborenen Kunst legte, das Problem
von dem Anfang der Kunst in überraschender Weise gelöst.

Die führenden Gedanken bei dieser Erklärung der geradlinigen
neolithischen Gefäßornamentik aus der Nachahmung von Flechtmustern
sind kurz gefaßt diese: 1. In der Flechttechnik entstehen automatisch
Muster von sich kreuzenden oder parallelen Linien. 2. Ein gewisser
Zusammenhang zwischen Flechttechnik und Töpferei ist bei vielen
Naturvölkern nachweisbar. Die Tongefäße werden durch geflochtene
Hüllen geschützt, sie werden an Schnüren getragen, Hals und Fuß
können angeflochten werden. Es kommt vor, daß eine geflochtene
Hülle bei der Herstellung des Gefäßes benutzt wird, daß ein Flecht-
werk von innen mit Ton bestrichen und beim Brennen zerstört wird,
sodaß der Abdruck des Flechtmusters in der Gefäßwand zurückbleibt.
3. Auch das frühe keramische Ornament ist geradlinig und kann eine
gewisse Ähnlichkeit mit Flechtmustern aufweisen. 4. Also ist das erste
geradlinige Ornament aus der Übertragung von textilen Mustern, in
erster Linie aus der Flechttechnik, zu erklären.

Während wir die wichtigsten Vertreter der technischen Erklärung

>) Wer den »Stil« aufmerksam liest, wird' sehen, daß Semper zwischen beiden,
dem technischen Muster und der Kunst- beziehungsweise^Ornamentform, geflissent-
lich Raum läßt für die schöpferische Betätigung der künstlerischen Phantasie, indem
er von dem technischen Erzeugnis übergeht zu dem aBegriff« oder auch der »Idee«
der in ihm waltenden Kräfte. Hiermit ist Semper gegen kritische Angriffe gedeckt;
es mag aber sein, daß der richtige Grundgedanke im Laufe seines umfangreichen
Werkes nicht immer scharf genug hervorgehoben und damit einer irrtümlichen Auf-
fassung Vorschub geleistet wird. Ich komme unten kurz auf den Gedanken Sem-
pers zurück.
 
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