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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Heft 3
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Meyer, Theodor A.: Das deutsche Drama und seine Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0376

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370 THEODOR A. MEYER._____

Ihre Lieblingsfiguren, ihre dramatischen Themen hat er nachgebildet,
allerdings nicht bedingungslos und sklavisch, sondern mit freiem Geist
und mit sicherer Umsetzung des französischen Kolorits ins deutsche.
Er hat die Franzosen nicht nachgeahmt, sondern von ihnen gelernt.
Als aber dann eine junge lärmende Schar, an ihrer Spitze Goethe, die
von Lessing geweckte Shakespearebegeisterung in die poetische Tat
umzusetzen sich anschickte, da ist der Alte von Wolfenbüttel tief er-
schrocken und hat sich für die Unverbrüchlichkeit der regelrechten
Dramenform, wie sie von den Franzosen ausgebildet war, eingesetzt,
ihm schien diese Form aus dem Wesen des Dramas selbst geflossen
zu sein; er war überzeugt, daß die griechischen Meister des Dramas
die Idee des Dramas in der poetischen Tat verwirklicht, und daß der
Grieche Aristoteles sie wissenschaftlich theoretisch festgestellt habe.
Über seinen Ausstellungen am Geist des französischen Dramas und
an der starren Regelmäßigkeit seiner Form bemerkte er nicht, daß er
sich in Wirklichkeit für die griechische Form in ihrer französischen
Weiterbildung eingesetzt hat. Will man ihm gerecht werden, so muß
man sagen, daß er dem französischen Drama eine zeit- und sach-
gemäße Weiterbildung gegeben und es mit deutschem Geist durch-
tränkt hat.

Denn die griechische Form des Dramas, die Lessing als Muster
vorgeschwebt hat, kann nicht erneuert werden. Als begründet in nicht
wiederkehrenden geschichtlichen Verhältnissen ist sie für alle Zeit dahin
und lebt allein weiter in der französischen Form, in der sie von ihren
zeitlich bedingten Besonderheiten befreit und aus ihrem dramatischen
Kern heraus sicher und folgerichtig weiterentwickelt worden ist. Was
an lyrischen und epischen Elementen im griechischen Drama vorhanden
war, der Chor, die lyrischen Gesangsszenen und die große Boten-
erzählung, haben die Franzosen beseitigt, wie dies teilweise wenigstens
in der Komödie schon im Altertum geschehen war. Dem Dialog haben
sie nach der Ausscheidung des einengenden Fachwerks der Chor-
gesänge eine größere Beweglichkeit und Abwechslung gegeben und
was die Griechen schon im Verlauf der Entwicklung ihres Dramas
immer mehr ausgebildet haben, das wahrhaft Dramatische zum be-
herrschenden Prinzip des ganzen Dramas erhoben.

Das im höchsten Sinn Dramatische entsteht nämlich da, wo das
Dialogische des Dramas in seine volle Konsequenzen entwickelt wird.
Das unterscheidende Merkmal des Dramas ist der Dialog, und jede
Gattung der Kunst gelangt da zu ihrer höchsten Entfaltung, wo das
sie bedingende Element in der seiner Art gemäßesten Weise durch-
gebildet wird. Der Dialog gelangt aber noch nicht zu seiner höchsten
Entwicklungsmöglichkeit, wenn zwei oder mehr Personen zusammen-


 
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