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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0435

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BESPRECHUNGEN. 429

■und das die Nachwelt »Vitae patrum« genannt und immer dann wieder her-
vorgezogen und zu neuer Anregung gelesen hat, wenn der uralte
Zwiespalt zwischen Seele und Welt irge ndwie nach einer neuen
Lösung drängte. Wenigstens in diesem bedeutsamen Sinne begibt sich Qolz,
nachdem er so gezeigt hat, auf welche Wurzel der »anregende Gehalt« des alten
Werkes eigentlich zurückzuführen ist, mit den »Legenden von den Altvätern« auf
eine Wanderschaft, die ihn durch die Jahrhunderte führt — bis auf unsere Tage.

Wir lernen zunächst eine Reihe mittelalterlicher Dichtungen kennen, die sich
mit Stoffen, die aus dem Legendenbuch geschöpft sind, beschäftigen. Sie gehören
sämtlich dem 13. Jahrhundert an. Hier kommt es noch zu keinem »Ausgleich«: der
asketische Gehalt der Eremitengeschichten wirkt am stärksten; Weltflucht wird in
einseitiger Weise vorgetragen und gepriesen. Eine männlich-sichere Haltung zwi-
schen Sinnenglück und Seelenfrieden hat zum ersten Male der ritterliche Wolfram
v- Eschenbach gefunden. Er »huldigt der Seele ohne den Leib zu kränken«
(S. 31) und »blieb im Kern seines Wesens offenbar dem Diesseits geneigt« (ebenda).
Golz zeigt dies vor allem an der Gestalt des Eremiten Trevrizent, dessen Bedeutung
für Parzival darin besteht, daß »von Sünden er ihn schied und ritterlich ihm den-
noch riet«. War in den alten Eremitengeschichten die Liebe — selbst in der Form
der Ehe — zu kurz gekommen, so hatte Wolfram ebenso wie sein Held Parzival
es »nicht nötig den Teufel der Unzucht durch den Beelzebub der Askese zu ver-
treiben« wie so manche »heiligen Väter«. Den Schlüssel gibt die Auffassung und
Darstellung von Parzivals Beilager.

Erst Luther, der die »Vitae patrum.'. liebte und eine neue Ausgabe (1544) mit
einer schönen Vorrede versah, die »für die Entwicklung des Einsiedlermotives inner-
halb des Protestantismus wichtig geworden ist« (S. 34), erreichte einen ähnlich
hohen zwischen den Gegensätzen vermittelnden Standpunkt! Grimmeishausens
Simplizissimus führt uns bereits wieder den Rückschlag vor Augen: »Aus der Wald-
einsamkeit führte er seinen Helden in die Welt, aus der unreinen Welt wieder in
die Waldeinsamkeit« (S. 36). Hinter Grimmeishausens Onuphrius lugt Robinson
hervor, hinter dem Robinson schon Rousseau; so wandelt sich ein und dasselbe
alte Motiv! Eingehend betrachtet Golz diese Zusammenhänge, die ihn auch auf
die Vermutung Düntzers führen, daß die gemütvollsten Gesänge von Wielands
»Oberon« sich wohl an die »Insel Fe'senburg« anlehnen möchten, und diese Ver-
mutung teilweise bestätigen, teilweise die motivgeschichtliche Herkunft der Felsen-
insel-Episode durch den Nachweis, daß Wieland auch die »Vitae patrum.' kannte,
noch weiter zurückschieben (S. 46). Sehr ergötzlich ist es dann zu lesen, wie der
Stadtphysikus Johann Zimmermann und »der wunderliche Heilige und kuriose Bücher-
wurm« Jakob Hermann Obereit für und gegen die Einsamkeit in langen Traktaten
gegeneinander zu Felde ziehen und welche seltsame Mittlerrolle Wieland dabei
spielt, dessen Gesinnung beide Kämpen nicht ohne Grund für sich in Anspruch
nehmen zu können glauben. Jung-Stillings Leben, Moritz' Anton Reiser führen uns
in den geistigen Dunstkreis ein, in dem Millers »Siegwart« gewachsen ist — aber
Golz zeigt, wie auch unsere Klassiker nicht unberührt geblieben sind von den senti-
mentalischen Grundgefühlen dieses Machwerkes, hinter dem eben letzten Endes die
selben Forderungen Rousseaus standen, die von den Stürmern und Drängern und
nicht zuletzt von dem jungen Goethe, dem jungen Schiller vertreten worden sind.
Hatte doch selbst Lessing schon »in den Gestalten seines Tellheim, seines Appiani
und später sowohl seines Klosterbruders wie seines Derwisches dem Gedanken
einer Flucht aus der geräusch- und ränkevollen Welt gehuldigt«! (S. 58).

Welche Bedeutung aber sollten die alten Legenden und ihre Grundmotive
 
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