Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

DOI Artikel:
Wittsack, Richard: Rhythmus und Vortragskunst
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14169#0271

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
RHYTHMUS UND VORTRAGSKUNST.

259

orchestrische zu wirken anhebt, tritt er nur zögernd, wie um Ent-
schuldigung bittend. Vortragende, die sich dagegen vom Formwillen
neuerer Dichter führen zu lassen wagen, gehen von außersprachlicher
Strenge aus. Ihr Mut zum Pathos im echten Sinn, zur Erhebung ins
Überwirkliche, wird schlecht-pathetisch, wenn der umgenommene
Rhythmenmantel weitere Falten schlägt, als ihr magerer Sprachkörper
zuläßt. Wer die Bindung aufgerichteter Form nicht bis in den letzten
Auslauf mit gesteigertem Leben zu füllen vermag, an dem klingt vers-
betonender Vortrag wie aus unzulänglicher Nährkraft künstlich auf-
gehitzt. Wo an innerer Fülle nicht mehr ist als auch gewöhnliche
Sprache mitteilen könnte, kann die rhythmuserhöhte nicht überzeugen,
sie klafft peinlich ab, aber nicht weil der Form zuviel, sondern weil
des Gehaltes zu wenig ist. Rhythmisches Sprechen ist also eine Kraft-
probe zum erlebnisüberquellenden Sprechen, das in rhythmischer
Höhe erst ganz sein Element hat. Und wo eine Zeit einem Vortrag
zudrängt, der den Rhythmus herausholt, darf tieferes Einbohren in das
Erlebnis, stärkeres Ernstnehmen der Kunst vermutet werden — während
Zeiten loserer Sprechrhythmik in einem loseren Verhältnis zur Kunst,
als zu einer bloßen Zutat und Schmückung, zu stehen pflegen. Daher
Dichter zu allen Zeiten, wenn sie sich selber vortragen, Rhythmik wie
Melos und Reim zu betonen pflegen, in einer Art, die nur einer, der
Gedichte für möglichst wirklichkeitstreu aufzuführende Monologstellen
hält, mit technischer Unzulänglichkeit begründen und als »singend«
abtun kann. Dichter ihrerseits — keineswegs nur Stefan George, son-
dern auch das Naturburschentum Liliencrons — haben in solch allzu
zünftiger Vortragskunst stets Barbarei gesehen und sie, nach Goe-
theschem Ausdruck, der Rhythmophobie, der Angst vor dem Rhyth-
mus, geziehen.

Wenn der Rhythmus einer Dichtung über sich selbst hinausweist,
auf ihre ganze innere Baukraft, von der er ein Ausdruck ist, tritt der
Sprechende mit ihm in den Schaffensmittelpunkt der Dichtung. Denn
der Rhythmus ist im dichterischen Schöpfungsakt von vornherein
mindestens mitgeboren, zuweilen ist er sogar der zeugende Keim, aus
dem die übrige Form, sogar der Gehalt der Dichtung entsprang. Ihn
zu spüren, muß daher das Erste der Vortragskunst sein, erst mit ihm
»hat« sie die Dichtung; »Musik vor allen Dingen« — »der Rest ist
Literatur, mein Bester«.

Möge die neue Sinnenfreudigkeit, die zuerst dem Auge zu gut
kam, die neue Sinnbildfreudigkeit, die, wieder die überwirkliche Gül-
tigkeit der Kunst ergreifend, nicht nur die Bühne stilisiert sondern
auch den bisher noch immer naturalistisch in ihrer Mitte stehenden
Menschen, als eine neue Durchseelung aller Körperbewegung mit neuer
 
Annotationen