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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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Cassirer, Ernst: Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.14169#0312

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ERNST CASSIRER.

gegenüberstellen. Wo der ästhetisch-Betrachtende und Genießende sich
der Anschauung der reinen Form hingibt — wo sich dem religiös-
Ergriffenen in der Form ein mystischer Sinn erschließt — da kann sich
dem Gedanken das Gebilde, das vor dem sinnlichen Auge steht, als
Beispiel für einen rein logisch-begrifflichen Strukturzusammenhang
geben. Wie Piaton gesagt hat, daß für den rechnenden Astronomen
die Sternbilder nichts an sich selbst bedeuten, sondern daß sie ihm
nur als »Paradeigma« dienen, an dem er sich die rein mathematische
Natur der Bewegung, an dem er sich das zeitlose ideelle Wesen
des »Schnelleren« und des »Langsameren« zum Bewußtsein bringt —
so wird dem mathematischen Geiste der Linienzug zu nichts anderem,
als zum anschaulichen Repräsentanten eines bestimmten Funktionsver-
laufs. Er erfaßt an seiner unmittelbar gegebenen Gestalt ein Etwas,
was sich der Anschauung als solcher schlechthin entzieht — er sieht
in ihm das Bild eines Gesetzes, einer Form der ideellen Zuord-
nung, die das letzte Fundament für alles mathematische Denken ist.
Und auch hier ist es das Ganze der anschaulichen Gestalt, nicht etwa
nur ein Teil oder Bruchstück von ihr, das unter diesen spezifischen
»Gesichtspunkt« gestellt und ihm gemäß mit einem bestimmten Sinn-
gehalt durchdrungen wird. Wo die ästhetische Richtung der Betrachtung
vielleicht eine Hogarthsche Schönheitslinie vor sich sah ■— da sieht
der Blick des Mathematikers das Bild einer bestimmten trigonometrischen
Funktion, etwa das Bild einer Sinuskurve vor sich, während der ma-
thematische Physiker in eben dieser Kurve vielleicht das Gesetz eines
bestimmten Naturvorgangs, das Gesetz für eine periodische Schwingung
erkennt. Wir suchen diesen systematischen Zusammenhang dadurch
zum Ausdruck zu bringen, daß wir das sinnliche Grunderlebnis, um
das es sich in diesem Falle handelt, in verschiedene »symbolische
Formen« aufgenommen und durch sie bestimmt und gestaltet
denken. Dabei soll und darf jedoch dieser Ausdruck nicht so verstanden
werden, als handle es sich hier um ein bloßes Auseinander oder um
ein zeitliches Nacheinander von »Form« und »Stoff«. Wenn wir im
Sinne der Husserlschen Terminologie zwischen dem sinnlichen Stoff
und den »beseelenden Akten«, zwischen sensueller 8Xt] und intentio-
naler \^opfq unterscheiden dürfen — so kann diese abstrakte Schei-
dung doch niemals bedeuten, daß beides sich im Phänomen trennen
läßt, daß ein an sich formloser Stoff gegeben wäre, der nach und nach
in verschiedene Formen der Sinngebung aufgenommen und durch sie
erst gestaltet würde. Wer den Kantischen »Dualismus« von Form und
Stoff, der ein Unterschied der Bedeutung, der transzendentalen »Geltung«
ist, in dieser Weise zu einem Auseinander und Nebeneinander im realen
Dasein macht, — der hat damit bereits den entscheidenden Gesichts-
 
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