BESPRECHUNGEN.
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inzwischen manches Tatsächliche überholt sein und die Forschungsrichtung, ein ideen-
geschichtlicher Pragmatismus, nicht allgemein geteilt werden. Es ist daher zu be-
grüßen, daß dieses standard-work immer aufs neue aufgelegt wird. Freilich ist es
dann in Zeiten von anderer Forschungseinstellung nötig, den Neuauflagen eine
geisfesgeschichtliche Würdigung beizugeben, die das Werk in seiner wissenschafts-
geschichtlichen Orientierung verständlich werden läßt durch Aufzeigung der gesamt -
geistigen Signatur, aus der heraus es entstand. Das hat Boucke, der die 7. Auflage
besorgte, in dem zu besprechenden Aufsatz in ausgezeichneter Weise getan. —
Hettners Werk wurde in einer Epoche konzipiert, die man als Renaissance der Auf-
klärung bezeichnen könnte. Die von der Romantik verspottete Aufklärungskultur
findet in den Gegnern und Totengräbern der Romantik, den Junghegelianern, Posi-
tivisten und Realisten neue Geistesverwandte. Die Rettung des rationalistischen
18. Jahrhunderts wird ihnen zur Ehrenpflicht. Hettners Literaturgeschichte erwuchs
aus einer innigen Beschäftigung mit den französischen Enzyklopädisten, die allge-
mein als Vorläufer des um 1850 herrschenden Positivismus gewertet wurden. Mole-
schott, Hettners Freund, hatte ihn auf sie aufmerksam gemacht. Die positivistische
Bewegung, die neue Aufklärung, hatte manche ihrer Geisteswaffen aus dem Zeug-
haus der alten geholt; wenn man nun auch die übernommenen Ideen im Sinn der
neuen Zeit gründlich umbildete, so wußte man doch den Gebern Dank. Eine Reihe
namhafter Forscher beschäftigte sich mit den Problemen des 18. Jahrhunderts:
Schlosser, Dahlmann, Bruno Bauer, Lechler, Perthes, Biedermann, Feuerbach und
andere gehören in diese Tradition. In die breite Schicht dieser Werke ist Hettners
eraturgeschichte einzureihen. — Freilich, wenn Hettner dem Materialismus hold
wenn er mit den Neurationalisten und Junghegelianern gemeinsame Sache macht,
tut er es vornehmlich deshalb, weil er in ihnen ein wirksames Gegengewicht
igen die Ausschweifungen des romantischen Philosophierens, gegen Hegels Speku-
lation erblickt. Im Grunde ist Hettner weder Junghegelianer noch Positivist, son-
dern er gehört — wie Boucke richtig hervorhebt — zu den Neuhumanisten, die das
Kulturideal der deutschen Klassik in sich lebendig erhielten. War die Signatur seines
politischen und historischen Denkens auch neurationalistisch, so war seine künstle-
rische Einstellung doch am klassischen Kunstideal orientiert. Das Wichtigste waren
ihm die geistigen und sittlichen Forderungen der Aufklärung, die in den deutschen
Idealismus übergingen. — Für den Ästhetiker sind besonders die Abschnitte II und III
der vorliegenden Broschüre wichtig, die sich mit Hettners kunstwissenschaftlichen
Forschungen beschäftigen. Über diese sind wir durch Spitzers Buch informiert,
gleichwohl sind jene Abschnitte nicht überflüssig. In einzelnen Punkten gelingt es
Boucke, die Ansichten Spitzers zu modifizieren. Boucke geht den methodisch einzig
richtigen Weg, indem er Hettners Literaturgeschichte in den Komplex seiner kunst-
wissenschaftlichen Werke einreiht, sie organisch aus dem Entwicklungsgang seiner
Forschungsarbeit herauswachsen läßt. Hettners Kunstanschauung wird nicht nach
einigen polemisch gefärbten Jugendaufsätzen, sondern aus seiner Gesamtleistung
heraus beurteilt. Daß Hettner ein abgesagter Feind der philosophischen Ästhetik
Hegelscher Tradition war, wissen wir aus der Programmschrift »Gegen die speku-
lative Ästhetik-. Hettner will darin >die spezifische Eigentümlichkeit individuellen
Lebens gegenüber abstrakter Begriffsallgcmeinheit« wieder zu Ehren bringen. Ich
möchte hier den Hinweis nachtragen, daß dergleichen Forderungen seit der jung-
deutschen Ästhetik zu den häufigst formulierten Gemeinplätzen gehörten. Man ver-
gleiche die kunstanschaulichen Auswirkungen der polemischen Emanzipation gewisser
Jungdeutscher (namentlich Mündts) von Hegel. — In der Schrift «Drangsale und
Hoffnungen der modernen Plastik« (1846) verurteilt Hettner die frostige Idealität
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inzwischen manches Tatsächliche überholt sein und die Forschungsrichtung, ein ideen-
geschichtlicher Pragmatismus, nicht allgemein geteilt werden. Es ist daher zu be-
grüßen, daß dieses standard-work immer aufs neue aufgelegt wird. Freilich ist es
dann in Zeiten von anderer Forschungseinstellung nötig, den Neuauflagen eine
geisfesgeschichtliche Würdigung beizugeben, die das Werk in seiner wissenschafts-
geschichtlichen Orientierung verständlich werden läßt durch Aufzeigung der gesamt -
geistigen Signatur, aus der heraus es entstand. Das hat Boucke, der die 7. Auflage
besorgte, in dem zu besprechenden Aufsatz in ausgezeichneter Weise getan. —
Hettners Werk wurde in einer Epoche konzipiert, die man als Renaissance der Auf-
klärung bezeichnen könnte. Die von der Romantik verspottete Aufklärungskultur
findet in den Gegnern und Totengräbern der Romantik, den Junghegelianern, Posi-
tivisten und Realisten neue Geistesverwandte. Die Rettung des rationalistischen
18. Jahrhunderts wird ihnen zur Ehrenpflicht. Hettners Literaturgeschichte erwuchs
aus einer innigen Beschäftigung mit den französischen Enzyklopädisten, die allge-
mein als Vorläufer des um 1850 herrschenden Positivismus gewertet wurden. Mole-
schott, Hettners Freund, hatte ihn auf sie aufmerksam gemacht. Die positivistische
Bewegung, die neue Aufklärung, hatte manche ihrer Geisteswaffen aus dem Zeug-
haus der alten geholt; wenn man nun auch die übernommenen Ideen im Sinn der
neuen Zeit gründlich umbildete, so wußte man doch den Gebern Dank. Eine Reihe
namhafter Forscher beschäftigte sich mit den Problemen des 18. Jahrhunderts:
Schlosser, Dahlmann, Bruno Bauer, Lechler, Perthes, Biedermann, Feuerbach und
andere gehören in diese Tradition. In die breite Schicht dieser Werke ist Hettners
eraturgeschichte einzureihen. — Freilich, wenn Hettner dem Materialismus hold
wenn er mit den Neurationalisten und Junghegelianern gemeinsame Sache macht,
tut er es vornehmlich deshalb, weil er in ihnen ein wirksames Gegengewicht
igen die Ausschweifungen des romantischen Philosophierens, gegen Hegels Speku-
lation erblickt. Im Grunde ist Hettner weder Junghegelianer noch Positivist, son-
dern er gehört — wie Boucke richtig hervorhebt — zu den Neuhumanisten, die das
Kulturideal der deutschen Klassik in sich lebendig erhielten. War die Signatur seines
politischen und historischen Denkens auch neurationalistisch, so war seine künstle-
rische Einstellung doch am klassischen Kunstideal orientiert. Das Wichtigste waren
ihm die geistigen und sittlichen Forderungen der Aufklärung, die in den deutschen
Idealismus übergingen. — Für den Ästhetiker sind besonders die Abschnitte II und III
der vorliegenden Broschüre wichtig, die sich mit Hettners kunstwissenschaftlichen
Forschungen beschäftigen. Über diese sind wir durch Spitzers Buch informiert,
gleichwohl sind jene Abschnitte nicht überflüssig. In einzelnen Punkten gelingt es
Boucke, die Ansichten Spitzers zu modifizieren. Boucke geht den methodisch einzig
richtigen Weg, indem er Hettners Literaturgeschichte in den Komplex seiner kunst-
wissenschaftlichen Werke einreiht, sie organisch aus dem Entwicklungsgang seiner
Forschungsarbeit herauswachsen läßt. Hettners Kunstanschauung wird nicht nach
einigen polemisch gefärbten Jugendaufsätzen, sondern aus seiner Gesamtleistung
heraus beurteilt. Daß Hettner ein abgesagter Feind der philosophischen Ästhetik
Hegelscher Tradition war, wissen wir aus der Programmschrift »Gegen die speku-
lative Ästhetik-. Hettner will darin >die spezifische Eigentümlichkeit individuellen
Lebens gegenüber abstrakter Begriffsallgcmeinheit« wieder zu Ehren bringen. Ich
möchte hier den Hinweis nachtragen, daß dergleichen Forderungen seit der jung-
deutschen Ästhetik zu den häufigst formulierten Gemeinplätzen gehörten. Man ver-
gleiche die kunstanschaulichen Auswirkungen der polemischen Emanzipation gewisser
Jungdeutscher (namentlich Mündts) von Hegel. — In der Schrift «Drangsale und
Hoffnungen der modernen Plastik« (1846) verurteilt Hettner die frostige Idealität