Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

DOI Artikel:
Feldkeller, Paul: Die Einstellungsmetapher
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0161
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
148

PAUL FELDKELLER.

und Kinder) vermag der Mensch noch in allen Dingen und Hand-
lungen Bedeutungen zu »schauen«, die über das Gegebene weit hinaus
liegen. Wenn Kinder spielen, so können sie allem, auch dem Fern-
liegenden, die ihrer jeweiligen Einstellung gemäße Bedeutung geben.
Auf der zweiten Stufe (Dichter und Frauen) ist das nicht mehr möglich:
es können nicht mehr wahllos alle Vorstellungen, z. B. Sternbilder und
das Spielen mit leb- und gestaltlosen Dingen, sondern nur noch ein
bestimmter, weit kleinerer Kreis poetischer oder religiöser Vorstellungen
ein höheres, über das Gegebene hinausliegendes Bedeutungserleben
vermitteln. Schließlich, auf der dritten Stufe (Wissenschaftler, Kommer-
zielle), bleibt nur noch eine einzige Restgattung von Gegenständen mit
Bewußtseinstransparenz übrig: die menschlichen und tierischen »Gesich-
ter«. Auf dieser Stufe wird die Auffassungsdistanz zwischen den aus-
einandertretenden Objekten auf der einen, dem Subjekt auf der anderen
Seite am weitesten getrieben, aber doch noch nicht so weit, daß die
genannten eigenartigen Gegenstände, in denen die Subjektsetzung über
die Objektivierung, die Einstellung über die Vorstellung dominiert,
unmöglich würden. Dies würde erst auf einer vierten Stufe der Fall
sein, die empirisch bisher nicht nachweisbar ist. Es gibt also im mensch-
lichen Geiste eine variable Auffassungsdistanz zwischen dem Subjekt
und Objekt und demnach Grade des Objektseins, d. h. des vom Subjekt
losgelösten Gegenüberstehens. Und diese Distanz variiert nicht bloß
nach der jeweiligen Auffassungsstufe des betreffenden Subjekts, sondern
zweitens auch nach den Gegenständen, die aufgefaßt werden wollen:
jedem Gegenstand ist seine spezifische objektbildende Distanz zuge-
ordnet. Wächst diese beispielshalber über eine bestimmte Grenze hinaus,
so sind physiognomische Gegenstände nicht mehr wahrnehmbar.

Die Physiognomien nun sind durchgängig Gestaltqualitäten, aber
nicht umgekehrt alle Gestaltqualitäten Physiognomien, auch wenn man
diese mit Recht nicht auf physiologische »Gesichter« einschränken will.
Physiognomien sind Gestaltqualitäten zu sammenge s etzter Art, sei
es, daß sie aus Elementen nur eines Sinnesgebiets, namentlich des
visuellen, oder aus sinnlichen und gedanklichen Komponenten zu-
sammengesetzt sind. Im zweiten Falle nenne ich sie komplexe: ein
Antlitz, von dessen Träger ich gelesen oder gehört habe, sieht anders
aus als ein gleiches, von dem mir nur die Wahrnehmungsdata zur Ver-
fügung stehen. Eine Melodie gewinnt ein verschiedenes Aussehen, je
nachdem, ob nach ihr bloß getanzt wird und man sie nur als Tanz-
begleitung kennt oder ob sie Leitmotiv in einem Musikdrama ist und
an bestimmte Szenen oder Personen erinnert oder aber gar in einer
Symphonie musikalischer Ausdruck einer Weltanschauung ist. Die Ver-
schiedenheit geht nachweislich bis zur Unkenntlichkeit. Eine Physio-
 
Annotationen