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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0102
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BESPRECHUNGEN.

malern beginnt, obwohl sie sogar den zeitlichen Vorsprung haben, wird derjenige
leicht verstehen, der in Schmarsows Kunstlehre zuhause ist. Sie beruht auf der
unbestreitbaren Grundanschauung, daß alle bildende, d. h. im Raum gestaltende
Kunst schöpferische Auseinandersetzung des Menschen mit der Umwelt ist, und
daß diese vom menschlichen Leibe her beginnt. Mag sich auch eine entwicklungs-
geschichtliche Folgerung für die Plastik daraus nicht ziehen lassen, so ist doch
zweifellos das Körpergefühl eine ursprüngliche Gestaltungskraft, die sich in allen
Künsten geltend macht, ihre reinste Verwirklichung aber in dieser findet. Seine
Wandlung in der mittelalterlichen Plastik Italiens bedeutet daher für die darstel-
lenden Künste erst einen neuen Anfang und damit den besten Ausgangspunkt der
Betrachtung von ihrer Seite her. An Niccolö Pisanos Baptisteriumskanzel offenbart
sich noch „das kraftstrotzende Lebensgefühl" der Frühzeit. Seine Verkörperung er-
reicht er durch Wiederaufnahme des wuchtigen Gestalttypus der römischen Kaiser-
zeit, den er in der Reihe der Tugenden an den Ecken zu christlichen Allegorien
umbildet. Zuvor aber muß ihm die Schönheit des menschlichen Leibes am kräftigen
römischen und süditalienischen Menschenschlage aufgegangen sein, — was eine
Anerkennung seiner (noch neuerdings bestrittenen) Herkunft aus Unteritalien in sich
schließt. Im Grunde ist sein Körpergefühl in Pisa noch durchaus das romanische.
Die Gotik hat auf die Gestaltbildung noch kaum einen Einfluß gewonnen, was man
— vielleicht nicht ganz ohne Einschränkung — gern zugeben wird, sondern nur auf
den tektonischen Aufbau des Ganzen, nach ansprechendem Hinweis des Verfassers
unter Anregung der Bauhütte von S. Galgano (s. u.), sowie auf die Bildgestaltung
zumal der letzten beiden Brüstungsreliefs. Denn während sie in den vorhergehenden
drei Szenen des Eintritts des Heilandes in die Welt und den alten Bund (Geburt,
Anbetung der Könige und Darstellung i. T.) im Gleichgewicht symmetrischer Ge-
genüberstellung beschlossen bleibt, findet in der Kreuzigung und im Weltgericht
durch die Reihung der Köpfe in den Seitengruppen eine zur Hauptgestalt aufstei-
gende und dann wieder hinabsinkende Blickleitung statt, die eine Ablesung von 1.
nach r. beim Umschreiten der Kanzel auslöst. Immerhin gilt auch für diese beiden
Reliefs der treffende Satz, mit dem Schmarsow die erste Stilstufe Niccolos kenn^
zeichnet: „so blicken wir hier zu Pisa in ein geduldiges Bemühen, die Früchte seines
Studiums antiker Bildwerke für die Ausgestaltung überlieferter Vorlagen christ-
licher Kunst zu verwerten." Ein reiferes und späteres Werk, zwischen beiden Kan-
zeln auf der Höhe seiner Kraft geschaffen, erblickt er fraglos mit Recht in der
Kreuzabnahme des Portals von S. Martino in Lucca. Es zeigt die vollendete Durch-
dringung eines gegebenen Bildtypus mit körperlichem Leben und Gefühl. „Alle
Bewegungen greifen hier zu wirksamem Zusammenhange ineinander." Dann erhebt
sich aber für uns die Frage, ob dieser Zuwachs struktiver Gestaltungskraft nicht
einem neuen Antrieb entspringt. Und hier lenkt schon die Tatsache, daß auf dem
zugehörigen Türsturz die gotischen Bildarchitekturen in den zusammengefaßten
Szenen der Jugendgeschichte auch eine Zunahme erfahren haben und die Falten-
bildung fließender geworden ist, unsere Vermutungen in eine andere Richtung.
Dessen muß man sich in der alten Streitfrage nach dem persönlichen Anteil Nic-
colos und seines Sohnes Giovanni oder gar Arnolfos und anderer Gehilfen an der
1265 begonnenen Domkanzel von Siena bewußt bleiben. Ihre Lösung wird wohl
immer nach dem subjektiven Ermessen eines jeden Forschers verschieden ausfallen.
Hier vermag ich der Aufteilung des Bildwerks durch Schmarsow nicht wider-
spruchslos zu folgen. Daß der Wunsch der Auftraggeber für die Vergrößerung des
Aufbaues und geistliche Vorschrift für die Erweiterung der Bilderfolge (durch den
aus der Predigt geschöpften Kindermord) maßgebend gewesen ist, wird man wohl
 
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