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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Hagelberg, Lilli: Heinrich von Kleist: eine Darstellung seines Grundproblems
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0162
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III.

Heinrich von Kleist.

Eine Darstellung seines Grundproblems.
Von

Lili Hagelberg.

Wenn ich es unternehme, über K 1 e i s t zu schreiben, so geschieht es,
weil ich versuchen möchte, sein ganzes Leben und Werk aus einem be-
stimmten Grundverhalten zur Welt zu erklären. Der Hebel seiner geisti-
gen Existenz scheint mir in einer einmaligen Beschaffenheit zu liegen, die
wohl schon wiederholt bemerkt, aber noch nie als prinzipielles Fundament
seines Wesens erkannt worden ist. Dies möchte ich unternehmen zu
zeigen, hs kann sich nicht darum handeln, eine genaue Analyse der
Werke hier zu geben. Nur beispielhaft kann ich die Dramen oder No-
vellen heranziehen, die für die hier aufgestellten Abwandlungen des einen
Grundproblems symptomatisch erscheinen. — Gegenstand des Dramas
ist das Verhältnis von Ich und Welt: ich möchte hier gleich klarstel-
len, was ich im Laufe dieser Betrachtung unter „Welt" verstehen will.
Welt bedeutet alles, was nicht das Ich selbst ist, jedes Nichtich, also
Schicksal, Gott, Natur, Gesellschaft, Staat, oder auch jedes Du. Wir unter-
suchen als erstes das Verhalten des Menschen zur Welt in Kleists erstem
Drama, der Familie Schroffenstein. Im Gegensatz zu Gundolf, der dieses
Erstlingswerk als ein Musterstück bloßer Virtuosität ansieht und aus-
drücklich ablehnt, hier ein dichterisches Weltbild zu sehen, glaube ich
das Kleistische Grundproblem in einer nie wieder so klar dargestellten
Ausschließlichkeit hier vor mir zu haben. Zwei nah verwandte, aber
durch Mißtrauen verfeindete Familien werden durch eine Reihe verkette-
ter Zufälle in gegenseitige Vernichtung getrieben. Als das Unheil voll-
endet ist und die beiden Feinde an der Bahre ihrer von ihnen selbst ge-
mordeten Kinder stehen, wird der Knoten gelöst, und alles Geschehen ent-
hüllt sich als eine Folge mißverstandener Zufälle. — Wir sind gewöhnt,
dramatische Weltbilder, in denen das blinde Verhängnis mit uns Ball
spielt, Schicksalstragödie zu nennen. Aber dieser Begriff, der die ratlose
Abhängigkeit der Marionette Mensch gegenüber dem unbekannten Draht-
zieher Schicksal zum Ausdruck bringt, erfährt hier eine bemerkenswerte
Präzisierung. Der eine Hauptträger der Handlung: Sylvester Schroffen-
 
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