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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Hirschfeld, Peter: Proust und Bergson
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0179
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IV.

Proust und Bergson.

Von

Peter Hirschfeld.

Marcel Proust gelangt in seinem Werk, das eine Manifestation euro-
päischer Kulturgemeinschaft bedeutet, zu einer Synthese aus westlichen
und östlichen Eigenheiten, und die Strömungen der europäischen Litera-
tur des 19. Jahrhunderts scheinen in ihm zusammenzulaufen. Man fin-
det in der „recherche du temps perdu" etwas von Balzacs Reichtum
der Erfindung, Stendhals psychologischen aper^us, Flauberts pointierten
Analysen und Zolas Schilderungsmethode der Nahsicht. Baudelaire, der
die Dekadenz als einen so produktiven Faktor in die Kunst einführte,
ist in seinem Intellektualismus verwandt1). Die unaufhörlich gefühlte
Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit sich selber und die Sprache
der sensiblen, bilderreichen Verfeinerung ist beiden gemeinsam. Sie be-
sitzen die gleiche Mischung von Poesie und Realismus in ihren Schilde-
rungen, und ihre Begabung für subtile Beobachtung schließt zugleich die
Fähigkeit einer fruchtbaren Kritik ein2).

Wenn in Prousts Sprache die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, die
Milieuschilderung, die Darstellung der Liebesentwicklung französisch
ist, deutet doch gleichzeitig die Gedankenschwere der überlangen Sätze
und ihre philosophisch - wissenschaftliche Diktion auf die deutsche
Sprache hin, deren Syntax Proust als dem Griechischen am nächsten
verwandt bezeichnet3). Den Franzosen erscheint seine Sprache als etwas
Fremdes, das sie erst erlernen müssen4).

Die eingehende Behandlung der Probleme, die die Wirkung der Lie-
besentwicklung auf den eigenen geistigen Organismus hervorruft, findet
in Strindbergs Lebensgeschichte eine Vorform; die Tendenz, statt des

!) E. R. Curtius, Französischer Geist im neuen Europa, Stuttgart 1925, S. 144,
145; vgl. Proust, Le temps retrouvö, II, S. 82/83. — „Temps retrouvß" und „Les
plaisirs et les jours" (1895) zitiert nach Ausgabe 1927; „La prisonniere" und „Du
cote de chez Swann" 1924; alle übrigen Bände 1925. (Erschienen 1913—1927.)

2) Baudelaire, L'art romantique, über Constantin Guys. (Oeuvres, Bd. III, Paris
1925, S. 51 ff.) und Proust, Pastiches et melanges, S. 100 ff. über John Ruskin.

s) L. Pierre-Quint, Marcel Proust, Paris 1925, S. 134, Anm. I.

4) Daselbst, S. 132.
 
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