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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 23.1929

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Hirschfeld, Peter: Proust und Bergson
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https://doi.org/10.11588/diglit.14175#0180
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PETER HIRSCHFELD.

zum auflösenden Ende drängenden, abgeschlossenen Werkes nur einen
scheinbar willkürlich gewählten Ausschnitt des unaufhörlich fließenden,
menschlichen Lebens zu geben, betont schon J. P. Jacobsen als ein Merk-
mal moderner Dichtung und schreibt: „... daß eine moderne Dichtung,
die endigt, nichts taugen kann,... denn ich habe nie etwas Abgeschlosse-
nes in einem Verhältnis zwischen Menschen gesehen1)." Eine Aus-
einandersetzung mit Dostojewski gibt Proust selbst2) und bezeichnet als
wesentliche Neuerung des Russen die Eindringlichkeit der Schilderung,
die Menschen und Milieu in engster Verknüpfung zu so starken Ein-
drücken zu steigern vermag, wie in der Schlußszene des „Idioten".
Dostojewski beschreibt nicht die Menschen, sondern macht ihre Charak-
tere und Eigenheiten aus ihren Wirkungen deutlich und entwickelt die
Berichtigung der Illusionen durch das Leben.

Diese Parallelen aus den europäischen Romanen des 19. Jahrhun-
derts können indessen nur als oberflächliche Berührungen mit Prousts
Werk genannt werden, denn die von ihm geschaffene, selbstbiographische
Kunstform des 20. Jahrhunderts ist etwas unvergleichlich Neues. Sein
Roman ist nicht von dem leidenschaftlichen Bedürfnis diktiert, sich vom
Erlebnis durch seine Darstellung zu befreien, wie in Strindbergs Lebens-
geschichte; es beruht auch nicht auf einer halb phantasievollen Neu-
schöpfung vergangener Jugendzeit wie Goethes Dichtung und Wahrheit.
Von der expressionistischen, leidenschaftlichen Spannung der Schilderung
bei Dostojewski unterscheidet Prousts Werk sich durch die beherrschte
Sachlichkeit der Darstellung und den impressionistisch-detaillierten Stil.
Bei ihm ist weder der Konflikt des Individuums mit den realen Forde-
rungen des bürgerlichen Lebens (Niels Lyhne) oder mit sozialen Pro-
blemen (Germinal) die Hauptsache, noch handelt es sich darum, wie bei
Stendhal und Balzac3), ein erfundenes Romangerippe zu beleben4).
Proust verbindet die Schilderung des völlig isolierten Entwicklungs-
ganges einer geistig orientierten Seele, die zugleich egozentrisch und ver-
stehend ist, mit der Darstellung verschiedener Gesellschaftsschichten,
deren psychologische Gesetze5) an ihren Vertretern gezeigt werden. Sein
Romanwerk als abgeschlossene Welt für sich0) ist ferner eine Auseinan-
dersetzung mit allen Erscheinungen der Geistes- und Sinneswelt und
von einer „culture philosophique, historique, scientifique et litteraire

1) Brief vom 14. III. 1880. Werke Bd. I, Jena 1905, S. 283/284.

2) La prisonniere, II, S. 239; Temps retrouvd, II, S. 172.

s) über Balzac urteilt Proust selbst: „l'oeuvre en quelque Sorte impure est
melee d'esprit et de realite trop peu transformee". Pastiches a. a. O. S. 240, Anm. 1.

4) B. Cremieux, XX. siecle, I. serie, Paris 1926, S. 60.

5) Le temps retrouve, I, S.37; II, S. 177, 251.

6) Daselbst II, S. 240.
 
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