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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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Flechtner, Hans-Joachim: Die phantastische Literatur: eine literarästhetische Untersuchung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0055
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BEMERKUNGEN.

39

Ein Beispiel wird hier am besten das Gemeinte verdeutlichen helfen: Der Dich-
ter hat die beiden Vorstellungen wirklicher Sachverhalte: Alensch und Maschine.
Seine Phantasie schreitet zu einer Vereinigung der beiden Vorstellungen. „Mensch
an der Maschine", die erste und zwangloseste Vereinigung ist ihm bekannt in ihrer
Wirklichkeit. „Maschine am Menschen", z. B. ein genial konstruiertes künstliches
Glied, ist ihm vielleicht persönlich nicht bekannt, er behauptet es aber als wirk-
lich. (Der Begriff der „behaupteten Wirklichkeit" ist für eine literarästhetische Unter-
suchung wohl kaum Mißverständnissen ausgesetzt.) Die Vereinigung selbst ist Tat-
sache, ist wirklich in irgend einer Gegend, an einer Person, die der Dichter nicht
kennt, von der er nie etwas gehört hat, sie ist also unbekanntes Wirkliches an sich,
für den Autor aber ist sie nur möglich Wirkliches. Erst die dritte Vereinigung, eine
„Menschmaschine", wie sie z. B. Bürgel in seinem „Dr. Uhlebuhle" schildert, greift
über das Gebiet des Wirklichen hinaus in das Gebiet des Möglichen. Allerdings
wird gerade hier ein Streit der Meinungen über die Möglichkeit einer solchen Ma-
schine einsetzen, aber wir können doch die Nichterreichbarkeit dieses Zieles in keiner
Weise begründen. Ernsthaft wird der Streit erst bei der letzten möglichen Ver-
einigung, dem „Maschinenmenschen", wie er etwa in Thea v. Harbous „Metropolis"
auftritt, d. h. also, dem künstlichen Menschen schlechtweg. Hier wird man zweifel-
los auf der Unmöglichkeit des Geschaffenen (nicht als Werturteil aufzufassen!) be-
stehen. Man muß sich aber klar sein, daß diese Behauptung von der Unmöglichkeit
unbeweisbar ist, wenigstens nicht als schlechthin gültig angesehen werden kann.

Mit dem bisher Erreichten gewinnen wir aber eine neue Einsicht in das Wesen
■der verschiedenen literarischen „Richtungen". Wir müssen beachten, daß vergangen
und zukünftig Mögliches stets das Moment zeitlichen Gerichtetseins in sich tragen,
während das jetzt Mögliche an sich zeitlos ist. Wir können dann zu folgender De-
finition der „Richtungen" schreiten:

Der Naturalismus: Gegenstand der Dichtung ist das Wirkliche, und
zwar in seiner extremsten Form nur das bekannte Wirkliche.

Realismus : Ober das bekannte und unbekannte Wirkliche hinaus wird
auch das jetzt-Mögliche in den Gegenstand aufgenommen.

HistorischeDichtung: Gestaltet wird das ganze Gebiet des Wirklichen,
also auch das ausdrücklich als vergangen wirklich Erkannte, dazu aber vor allem
auch das vergangen Mögliche. Selbstverständlich findet sich auch jetzt-Mögliches.

Prophetische Dichtung: Zum Wirklichen und jetzt-Möglichen tritt
statt des Vergangenmöglichen das Zukunftmögliche.

Es muß beachtet werden, daß die hier geschilderten „Gebietserweiterungen" nicht
ausschließend, sondern einschließend sind. Das bekannte Wirkliche ist stets Gegen-
stand der Dichtung, dazu tritt das Unbekannte, das Mögliche usf. Es kommt also
immer etwas hinzu, nie tritt das eine für das andere ein. Insofern ist unsere De-
finition der prophetischen Dichtung nicht ganz exakt, dieses „statt" hatte nur ver-
deutlichende Bedeutung. Denn in der historischen Dichtung wäre alles Zukunft-
mögliche wesensfremd, in der prophetischen dagegen ist das Vergangenmögliche
nicht wesensfremd, sondern tritt bei seinem evtl. Erscheinen organisch in den Rah-
men des Ganzen. Es ist also unmöglich, daß eine Dichtung lediglich Mögliches ent-
hält, das Wirkliche wird vielmehr stets der Boden sein, auf dem alles andere er-
wächst.

Ein Gebiet literarischen Schaffens ist aber bisher von uns noch gar nicht berührt
worden, und zwar das Gebiet des Unmöglichen. Alles, was seinem Wesen nach,
nicht wie der „Maschinenmensch" unseren heutigen Anschauungen nach, unmöglich
ist und sein muß, alles das kann doch auch zum Gegenstande literarischer Ge-
 
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