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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0098
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82

BESPRECHUNGEN.

je nur den einen Sinn hatten: durch solche Wunder nur noch mehr Zeit, noch
mehr Ruhe erlangen zu können? Der Mensch von heute, dem in der Raum und
Zeit überwindenden Technik der Energieeffekt Jahrtausende alten Wollens endlich in
den Schoß fällt, ist solchem Wunder noch nicht gewachsen: Er betet das Mittel als
Selbstzweck an und konstruiert eine Weltgeschichte, in der alle feste Form und alles
statische Sein bisherigen Schauens und Gestaltens nur primitive Annäherungsver-
suche sein sollen an das gestaltlose Rasen der Gegenwart. Naturerkenntnis soll sich
in technischer Überwältigung der Natur vollenden. Kunst soll nicht in ruhiger
Kontemplation erfaßt werden, sondern selbstschöpferisch, fahrend, fliegend, prak-
tisch, handelnd. — Zugegeben, daß das Tempo unserer Zeit neue Wirklichkeit
und eben damit neue Schönheit zeitigt und daß die alten Formen der Künste diesem
Neuen nicht gewachsen sind. Nun, dann stehen die Künste eben bloß vor neuen
Aufgaben, nämlich neue Ausdrucks- und Darstellungsmittel für jenes Neue zu fin-
den. Nicht aber darf ein derzeitiges Unvermögen aufgebläht werden zu der wahren
Kunst und Schönheit, nämlich so, daß man dekretiert: es komme nicht darauf an,
diese neue Wirklichkeit adäquat darzustellen; Nachbilden sei überhaupt keine wahre
Kunst. Die wahre Kunst sei vielmehr „geistig", sei „unsinnlich", „romantisch",
„gotisch", sei unkörperlicher, unräumlicher Rhythmus, Spannung, sei M u s i k.

Die Diskreditierung und Degradierung der substantiellen Körperlichkeit zu einer
Scheinwirklichkeit, die nur einem noch unentwickelten Schauen gegeben sei: während
zum wahren Ansich nur jenes geistige Mitleben vordringe, das in jeder körper-
lichen Gestalt und in jeder sinnlichen Qualität ein zeitliches Werden, eine Kraft,
einen Willen erfühle — solche Diskreditierung und Degradierung rekurriert auf
Einsichten, die schon längst zum Bestände der traditionellen Philosophie gehören.
Schopenhauer verstand es, „materielle Naturerscheinungen als dynamische
Lebensvorgänge zu erkennen", er sah alle feste Gestalt als Verkörperung eines
Wollens, alle festen Formen als „Gebärde der Natur", sah statt materieller Form
vibrierendes Leben. Sogar Thomas von Aquino, ja eigentlich schon Ari-
stoteles sah, was von Herzog als neueste Entdeckung proklamiert wird: daß
alles scheinbar Totkörperliche und alles Statische in Wahrheit die „Äußerung" eines
aktuellen Werdens ist. Und doch spielt in ihren Philosophien eben das eine sehr
entscheidende und positive Rolle, was nach Herzog die Erkenntnis des wahren An-
sich der Wirklichkeit verbauen soll: feste Gestalt, statische Begriffe und Ideen.
Und alle großen Maler und Plastiker der Vergangenheit sahen das Gleiche und
verstanden es, diese Werdenslebendigkeit und alle Werdensimpulse des Statischen
in ihren Werken zum Ausdruck zu bringen — ohne zu jenen übertriebenen Ver-
renkungen ihre Zuflucht nehmen zu müssen, zu denen der Plastiker Herzog greifen
zu müssen glaubt, wenn er den rhythmischen Fluß der Körper und die Werdens-
impulse der Formen „als das Absolute der Plastik" gestalten will.

Jede Plastik des Michelangelo offenbart ein radial in den Raum brechendes
Leben des dargestellten Körpers. Und gleiches Leben strahlt, wölbt sich und strebt
aus der Farbenpracht eines Rubens. Von van Gogh gar nicht zu reden! Wozu also
das Geistige, Gotische und Romantische beschwören, wo schon das Statische und
Sinnliche, wo schon die „heidnische" Kunst lebendigstes Werden offenbart? —

Am Ende ist es aber etwas ganz anderes als die absolute Dynamis, um dessen
Ausdrucksmöglichkeit neue Kunst ringt: nämlich nicht das Tempo, nicht das zeit-
liche Rasen, nicht der Lebenselan, nicht die Werdensspannung und der Werdens-
impetus. Sondern die Darstellungsmöglichkeit eines wirklich neuen Inhalts, der
heute zu allererst ins Bewußtsein des schauenden Menschen bricht: Nicht in den
Moment hineingeraffte Nachzeitigkeit, sondern — im Gegenteil! — Gleichzeitigkeit
 
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