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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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Wipper, B.: Das Problem des Stillebens
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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0071
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BEMERKUNGEN.

57

Mal das geheime Leben der Dinge, das der Antike fremd war. Das ist kein
Wunder. Es gibt ja nur einige geschmückte Miniaturhandschriften. Diese Bücher
tragen immer das Gepräge der Persönlichkeit des Auftraggebers, seiner Umgebung
und seiner Lieblingsgegenstände.

Auf einem ganz anderen Wege vollzog sich die Entwickelung der gegenständ-
lichen Kunst in Italien. Der Nordländer betrachtet den Gegenstand vom maleri-
schen Standpunkt aus, der Ausgangspunkt des italienischen Künstlers aber ist die
Plastik und die Konstruktion. Die Konstruktion aber zeigte dem Italiener die
Aktivität der Dinge, ihre eigentümliche „Gestikulation"; der Flamländer inter-
essierte sich für das „stille Leben" der Gegenstände, der Italiener dagegen bevor-
zugt die beweglichen Dinge. Sehr oft erblickt man auf italienischen Bildern Gegen-
stände, die aus dem Rahmen hinausstreben, sich nach außen hin herabsenken. Wie
verschieden, beredt, „szenisch" sind doch die Attribute in den Händen der italie-
nischen Heiligen! Die nördliche Kunst unterscheidet sich von der südlichen auch
noch in anderer Hinsicht. Der Flamländer möchte die „Stimmung" des Dinges
erkennen, den Italiener dagegen fesselt die Seelenlosigkeit und Passivität des
Gegenstandes. Es ist kein Wunder, daß der italienische Künstler so gern an den
Leichen Experimente macht. Der tote Körper („Christus" von Mantegna) ist für
ihn kein Mensch mehr, sondern ein Gegenstand, der alle Eigenschaften eines fühl-
baren und riechbaren Dinges besitzt. Diese Gegenstandsempfindungen, diese sinn-
liche Auffassung der Dinge charakterisieren die italienische Kunst. Im Quattro-
cento bevorzugten die Maler das Thema „der Mensch und das Stilleben", wid-
meten seiner Ausarbeitung eigenartige Figuren (vgl. die Fresken von Ghirlandajo).
Aber auch die Auswahl der Gegenstände weist auf den Unterschied zwischen den
Flamländern und den Italienern hin. Im Norden erzählt uns das Stilleben von
festen Gebräuchen, von der häuslichen Lebensweise, in Italien dagegen erinnert
es an die ungemütliche Lautheit und Buntheit des antiquarischen Ladens. Der
Italiener interessiert sich vor allen Dingen für die besonderen „exotischen" Gegen-
stände. Dabei ist dem Italiener, der sich die antiken Traditionen angeeignet hat,
das nordische Interieurgefühl ganz fremd. Indem er uns die Illusion eines unend-
lichen Raumes gibt, liebt der Italiener den Raum nach außen zu öffnen, die Mauern
und die Wände zu brechen. Von den Pavillons Giottos schreitet die italienische
Malerei zu dem himmlischen Zugwinde Pozzos und den tanzenden Wolken Tiepolos.

Die sinnliche Auffassung des Gegenstandes (durch den Geruchs- und Gefühls-
sinn), die schon die Malerei des Quattrocento andeutet, bekommt eine neue Wen-
dung in der klassischen Kunst durch die großartige Entdeckung Leonardos. Das
berühmte Helldunkel Leonardos, sein „sfumato", ist die Ursache davon, daß der
Raum selbst empfunden werden kann; es dringt in das Innere des Gegenstandes,
wärmt den Körper, enthüllt die besondere „Eigenschaft" des Dinges, seine eigen-
tümliche höhere Schönheit, an die Leonardo glaubte. Die Beziehungen des Menschen
und der Dinge werden immer zärtlicher und intimer. Viele Künstler bemühen sich,
die kaum bemerkbaren Schattierungen der Zusammenstellung von Mensch und
Ding zu erfassen, zum Beispiel „der Meister der weiblichen Halbfiguren", Bronzino
oder Tizian. Das „sfumato" enthüllte dem Künstler den Zauber der Berührung.
Man kann behaupten, daß erst nach Leonardos „Madonna mit der heiligen Anna"
die italienische Malerei die rechte Art gefunden hat, um den Reiz der Umarmung
und die Dauer des Kusses darzustellen. Unter dem Einflüsse des Sfumatos ent-
standen viele neue malerische Probleme, so zum Beispiel das Problem der Ent-
blößung des Körpers und des Gegenstandes. Der venetianische Maler beschäftigt
sich gern mit der Oberfläche der Dinge, im Norden dagegen finden wir oft ganz
 
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