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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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Hoerner, Margarete: Die Naturanschauung des Spätbarock in Literatur und bildender Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0161
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BEMERKUNGEN.

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zum anderen Menschen, nicht um Objektivierung eines bestimmten Verhältnisses
mit ihm allein zukommenden Eigenschaften. Man vergleiche dazu die Stellung der
Romantik zur Liebe, die ganz gleich lautende Äußerung Friedrich Schlegels:

,,Wenn ich unverstanden bliebe.
Ohne Gegenstand mein Streben,
Keine Liebe mir gegeben,
Würd ich dennoch innig lieben"1).

Der Mangel an Gegenständlichkeit wird begleitet, verursacht oder ist selbst
Ursache einer anderen Eigenheit manieristischer Zeiten: des Strebens nach
Ferne. Man könnte angesichts der Robinsonaden in der Literatur, der Chinoi-
serien in der bildenden Kunst und Kultur annehmen, daß es sich hier um ein
tiefes Eindringen in fremdes Wesen handele, um Eroberung der Welt und ihrer
vielfachen Möglichkeiten. In Wirklichkeit handelt es sich aber nicht um Annähe-
rung an ein Fremdes, sondern Entfernung vom Eigenen. Die Robinsonaden werden
vorzugsweise nach „Südland" verlegt. Südland ist Australien, d. h. ein unbekanntes
Land, von dem man nichts wußte und wo alle Dinge möglich waren, die notwen-
dige Voraussetzung für eine Utopie. Utopisch sind aber nicht nur die Robin-
sonaden und Staatsi'omane, sondern auch die Chinoiserien. Sie ahmen nicht mehr
wie noch im 17. Jahrhundert fremde Vorbilder nach, sondern schaffen sich ein
fremdes Gewand für die Darstellung eigener Ideen. Entfernung also, Verundeut-
lichung des Einzelnen, ist der wahre Grund in der Bevorzugung des Exotischen.
Man vergleiche damit den von Rose zitierten Ausspruch Madeleines von Scudery
angesichts des Versailler Parks: „Wenn auch der Abstand zu groß ist, um die
Einzelheiten als solche zu erkennen, so wohnt doch diesen vergoldeten Dächern,
allen diesen Bosketts und Fontänen eine eigenartige Großartigkeit inne, spe-
ziell durch die Undeutlichkeit, die sich in der Fernperspektive ein-
stellt"-'). Wenn Goethe dagegen einen Gegenstand loben will, so nennt er ihn
gegenwärtig: „Die vorspringende Gegenwart dieses herrlichen Architekturgebildes"
(Faustinatempel) oder „mir war die unmittelbare Gegenwart dieser Steine höchst
rührend" (antike Grabmäler) oder „Was in diesen Bildern für eine scharfe, sichere
Gegenwart dasteht" (Mantegna)-1). Gegenwart ist Dauer und Nähe. Im Barock
ist Gegenwart der Augenblick.

Man erwartet keine Bereicherung an Kenntnis und Genuß durch das Schweifen
in die Ferne. Immer wieder lehnt Robinson die Beschreibung der gesehenen Städte
und Länder als überflüssig und uninteressant ab: „I shall not pester my account
or the reader with descriptions of places, journals of our voyages ... such as
almost all the histories of long navigation are füll of, and makes the reading
tiresome enough and are perfectly unprofitable to all that read it, except only to
those who are to go to those places themselves"4). Wenn er etwas für erwähnens-
wert hält, so geschieht es nur im Hinblick auf die Heimat und wird im Vergleich
mit dieser als minderwertig verworfen, z. B. die Stärke der chinesischen Heeres-
macht, Flotte und Befestigung, Größe des Handels, Eigenart der Bauweise. Nicht
eines wird bestehen gelassen oder in seiner Eigenart gewertet5). Robinson empfindet

L) F. Strich, Deutsche Klassik und Romantik, 3. Aufl. München 1928.
-) Rose, a. a. O. S. 7, Anm. 1.

:!) Italienische Reise, Ausgabe Weimar 1903, Bd. I, S. 40, 63, 92.
") Defoe, Life and stränge adventures of Robinson Crusoe, Ausg. Tauchnitz,
Leipzig 1749, II, S. 223.

••) Defoe, a. a. O. II, S. 265.
 
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