Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

DOI article:
Wellek, Albert: Der Sprachgeist als Doppelempfinder: ein Beitrag zur musikalischen Psychologie und Ästhetik der Sprache
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0274
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
260

ALBERT WELLEK.

schichtliche Aufschlüsse in der Etymologie und in der Sprachgeschichte
überhaupt. Hier wird vor allem die entwicklungsgeschichtliche Tatsache
offenbar, daß die sinnliche Mehrdeutigkeit der Sinnesbenennungen, die
Gemeinsamkeit der Bezeichnungen auch für Licht und Schall, desto häu-
figer und allgemeiner wird, je weiter wir zu primitiveren und ursprüng-
licheren Sprachen zurückgehen. Im Griechischen z. B. haben ßagvg und
6&g die soeben angeführte Nebenbedeutung von „langsam" und
„schnell", außerdem bezeichnen auch beide die Tonstärke und sogar
Qualitäten der niederen Sinne (ßagtig für den Geruch: stinkend; ö£vg
für den Geschmack: herb, sauer); diese vielseitigen sinnlichen Neben-
bedeutungen gehen dem lateinischen „acutus" und „gravis", dem franzö-
sischen „aigu" und „grave" bereits ab: die Differenzierung schreitet hier
fort. In derselben Richtung liegt die Gewinnung neuer, verschiedener
Wurzeln oder Stämme für die Worte verschiedener Sinnesgebiete, die
ursprünglich wurzelverwandt oder identisch waren. Im Sanskrit heißt
„svar" Licht (auch Himmel) und „svara" Klang, und noch im Griechi-
schen (und Neulateinischen) äußert sich die ursprüngliche Wurzelver-
wandtschaft von Licht und Schall in dem auffälligen und übrigens höchst
willkommenen Gleichlaut von „photisma" und „phonisma", der bei
der Betrachtung der Synästhesien die schönsten wortspielerischen Anti-
thesen erlaubt. Im Hebräischen ferner heißt ,,'ör" zugleich Lufthauch
(Odem) und Licht. Und selbst noch im Lateinischen dürfte sich „sur-
dus" (= taub) der Wurzel nach auf sword oder surd (= dunkel) bezie-
hen104) ; wie denn auch P 1 a t o von einem „dunklen Gehör" im Sinne
von Taubheit spricht105). — Die tieferen Zusammenhänge dieser und
ähnlicher Etymologien wird erst eine Geschichte des Doppelempfindens
zu erschließen haben, wie sie ja bereits vom Verfasser versucht worden ist.

Eine solche dynamische Betrachtung behalten wir uns indes in die-
sem Zusammenhange vor und begnügen uns mit dieser nur flüchtigen
Umreißung des statischen Betrachtungsfeldes: Hier galt es im Wesent-
lichen nur den Beweis (und der ist nunmehr sicherlich offenkundig), daß
der „Sprachgeist" in.seiner Art stets Doppelempfinder war und es noch
ist — sogar in dreifacher Hinsicht: hat er doch, wie wir gesehen haben,
seine eigene synästhetische Programmatik, Synthetik und Symbolik oder
Tropik, so gut wie dies die drei Hauptmöglichkeiten der individuellen
synästhetischen Phantasie sind. Und nicht nur in diesem Sinne, sondern
vor allem auch in der Verbrüderung aller Sinne mit allen ist es gewiß

104) Nach Kluges Etymolog. Wörterb. d. deutschen Spr. (1924), unter
„Schwarz" („... dies aber mit weniger Wahrscheinlichkeit").

105) El iirj ay.oteiväg nsgi ixdozcav ztväg äxodg. Kritias 109 E. — Man ver-
gleiche dazu die Betäubung durch das Licht im Faust (Ariel: „... Trifft es euch,
so seid ihr taub").
 
Annotationen