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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0290
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276

BESPRECHUNGEN.

„Leib" und „Seele", von „Natur" und „Geist" ein funktionales Verhältnis
tritt" (S. 150).

In dem Hand-in-Hand-Gehen der empirischen Forschung und der Kunsttheorie,
das in der Schaffung eines neuen Sinns der Naturgesetzlichkeit bahnbrechend für
die Philosophie der Zeit wird, erblickt Emst Cassirer eines der bezeichnendsten
und fruchtbarsten Momente in der geistigen Gesamtentwicklung der Renaissance.
Das Neue, das aus dem Zusammenwirken von Wissenschaftstheorie und Kunsttheo-
rie hervorgeht, ist dies: „Die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit wandelt
sich zur Korrelation. Denn das ist der gemeinsame Zug, der die Welt der reinen
Erkenntnis mit der des künstlerischen Schaffens verbindet, daß in beiden, wenngleich
in verschiedener Weise, ein Motiv der echten geistigen Zeugung waltet" (S. 151).
Mathematik und Kunst begegnen sich ferner in der Forderung der „Gestalt"
(S. 161). Sie müssen zu einem „architektonischen" Aufbau des Kosmos führen. Die
Notwendigkeit des Gegenstandes, auf den alle bildenden Kräfte des Ich sich rich-
ten, und an dem sie sich bewähren, enthüllt dem Ich die Kraft seiner Spontaneität.
Mit der veränderten Auffassung des Naturdinges ist eine Umbildung des Natur-
begriffs gegeben. Erstes Zeugnis dafür ist die Wandlung des Naturgefühls
seit dem 13. Jahrhundert. In Einschränkung von Burckhardts These, daß die Re-
naissance das Eigenrecht der Natur auf dem Weg der sinnlich-empirischen Anschau-
ung erkämpft habe, zeigt Cassirer an den Nachwirkungen Telesios einen Um-
schwung: ein starkes Hineinspielen von Theosophie und Mystik. Er leitet diese
magische Weltansicht her aus der Erkenntnislehre — ein Ding erkennen heißt mit
ihm eins werden —, und aus dem Fehlen eines objektiven Wertmaßstabs und eines
Prinzips der Auswahl unter der Fülle von Erscheinungen in der sinnlichen Welt.
Der Empirismus der Renaissance kennt keine Grenze zwischen Erfahrungswelt und
Wunderwelt, bis eben die Mathematik im Verein mit der Kunsttheorie Kriterien der
Erfahrung herausarbeitet. „Die Reflexion auf die Freiheit des Menschen, auf seine
ursprüngliche Schöpferkraft, verlangt den Begriff der immanenten „Notwendigkeit"
des Naturgegenstandes als ihre Ergänzung und als ihre Bestätigung." (S. 161.)
Den Nachweis dafür, wie hier die künstlerische Vision der wissenschaftlichen Ab-
straktion den Weg bereitete, führt Cassirer aus Leonardo da Vincis Aufzeichnungen.
In der Aufstellung des neuen Begriffs der Naturnotwendigkeit sieht er Leonardos
gedankliche Größe beschlossen. Die Kunst ist ihm ein echtes Organ der Wirklich-
keitserfassung, an Wahrheitswert der Wissenschaft gleich. In beiden waltet die
Notwendigkeit, die dem Geist verwandte Notwendigkeit der reinen Proportion. Die
Natur ist das Reich der vollkommenen Gestaltung. Von dieser Auffassung Leonar-
dos aus kommt Cassirer zu einer Ablehnung sowohl von Croces Versuch, ihn an die
modernen Naturforscher Galilei und Newton heranzurücken, als auch von Olschkis
Erklärung Leonardos als eines phantasievollen Schwärmers. Leonardo hat im Gegen-
teil erwiesen, was die von Goethe so genannte „exakte sinnliche Phantasie" für die
empirische Forschung zu leisten vermag. „I n der Anschauung, nicht unter oder
über ihr, wird die wahrhafte, die objektive Notwendigkeit entdeckt." (S. 167.)

In dem durchgehenden Parallelismus' von Kunsttheorie
und Wissenschaftstheorie sieht Cassirer fast alle großen Errungen-
schaften der Renaissance wie in einem Brennpunkt zusammengefaßt. Sie wurzeln
in einer veränderten Stellung zum Problem der Form, die sich auf allen geistigen
Gebieten, auch an der Dichtung, vor allem der lyrischen, und an der bildenden
Kunst nachweisen läßt. In der lyrischen wie in der logischen Sphäre hat die neue
Form den überlieferten Gehalt gewandelt. Das Streben nach Reinheit der Sprache
führt zur Neugestaltung der Dialektik, die Stilistik wird zum Vorbild der Katego-
 
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