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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 27.1933

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Kuhn, Helmut: Das Problem der Interpretation von Kunstwerken : Bemerkungen zu Fritz Saxls Buch über Mithras
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https://doi.org/10.11588/diglit.14172#0071
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BEMERKUNGEN.

57

ischen Hauptbild als Gebärde und Handlung dargestellt ist, ein anthropologisches
Urmotiv, das in seinem Sinn unmittelbar erfaßt wird und der weiteren historisch-
differenzierenden Deutung zugrundeliegt. Es gehört in die Sinnganzheit eines
Daseinsverständnisses, das zwar als Bedingung der Interpretation ihr vorangeht,
jedoch zugleich in der ästhetischen Anschauung erst „erweckt" wird. Es ist der
gleichen elementaren Schicht zuzurechnen, in der das ästhetisch-anthropologische
Apriori des Klassizismus, sein Begriff einer ethischen Haltung als Bedingung schö-
ner künstlerischer Form, wurzelt.

Nun kann und soll aber nicht in der bildnerisch geformten Ausdrucksgebärde
der ausgedrückte Gehalt (die Stimmung) so erfaßt werden, wie wir im mensch-
lichen Umgang vermittels der Wahrnehmung von Gebärden seelische Vorgänge ver-
stehen. Wir würden sonst die Grenzen der ästhetischen, d. h. dem Kunstwerk an-
gemessenen Betrachtung zugunsten einer psychologischen Haltung überschreiten,
die in dem Kunstwerk nur den abbildlichen Ersatz für die Sachen, d. h. die Aus-
drucksgebärden selbst sieht. Auch müßte eine solche Betrachtungsweise der Kunst
gegenüber scheitern. Denn es zeigt sich, daß die in der „Pathosformel" bildnerisch
geformte Gebärde weitergegeben und in der Weitergabe umgedeutet, d. h. von dem
ursprünglichen Ausdrucksgehalt gelöst und einem neuen Ausdruckswillen dienstbar
gemacht werden kann. Es kann, wie Warburg gezeigt hat, geradezu eine „Inver-
sion" des Ausdrucksgehaltes eintreten: aus der Gebärde des Schreckens wird
Triumph, aus der Tötung Heilung (vgl. Saxl in dem oben zitierten Vortrag S. 20 f.).

Daraus dürfen wir nicht mit dem Formalismus folgern, daß es sich für den
Künstler nur um formale Probleme, etwa um das Problem der Darstellung eines
bewegten Körpers gehandelt und daß er dementsprechend unter Nichtachtung des
Bildinhaltes und seiner Ausdruckskomponente verfahren habe. Vielmehr ist wie die
Übernahme so auch die Umdeutung nicht beliebig, sondern ein künstlerisches Pro-
blem. Die Geschichte der Ausdruckstypen verliert durch die Möglichkeit der „ener-
getischen Inversion" weder ihre Kontinuität noch ihren Sinn, ja ihr Sinn erschließt
sich erst durch die Umdeutbarkeit, die im extremen Fall Ambivalenz ist.

Man wußte, daß die mithräische Darstellung der Stiertötung von dem Typus
der Nike ßovDvrovoa abgeleitet ist. S. zeigt nun, daß die Nike-Gruppe zur Mithras-
Gruppe umgedeutet werden konnte, „weil sie genetisch schon die Gruppe des hero-
ischen Tierbezwingers ist" (12). In einer fesselnden Untersuchung geht S. der
Geschichte dieser Gruppe nach. Schon die vorderasiatische Glyptik hat einen Typus
des Stierkampfes ausgebildet. Tier und Mensch sind hier aufrecht, beide in gleicher
Größe, dargestellt. Der Mensch blickt nicht nach dem Feind, sondern aus dem Bild
heraus, er packt das Tier am Kopf und hält seinen Körper empor. Nicht eine Phase
des Kampfes ist dargestellt, sondern der Kampf ist in einer Bildformel ausgedrückt.
In diesem Kampfe ist das Tierische dem Menschlichen gegenüber „ohne Wider-
standskraft und ohne Schwere, denn der Kämpfende ist ein göttlicher Held, der
Kampf ein Symbol der Überlegenheit des göttlichen Menschen über das Tier" (5).
Von hier führt kein direkter Weg zu der griechischen Darstellung. Die Urzelle des
Griechischen findet S. auf europäischem Boden, in der mykenischen Kunst. Hier
wird die transitorische Phase des Kampfes dargestellt, hier findet sich das Motiv,
das den Helden stehend über dem zusammenbrechenden Tier oder gegen es anschrei-
tend zeigt. Die klassische Kunst erkämpft sich dann eine endgültige Formulierung
des Themas, und S. geht diesem Prozeß im Einzelnen nach, dessen Stationen durch
Delphi, Olympia (Kampf des Herakles gegen die Hirschkuh) und Parthenon
(Lepithenkampf) bezeichnet sind (8 ff.). Mensch und Tier sind zu einer plastischen
Gruppe zusammengehalten, aber so, daß der Mensch das (in den meisten Fällen
dreieckige) Kompositionsschema beherrscht. Dargestellt ist die Endphase des Kamp-
 
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