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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 28.1934

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Schirmer, Walter F.: Dichter und Publikum zu Ende des 15. Jahrhunderts in England
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https://doi.org/10.11588/diglit.14173#0225
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DICHTER U. PUBLIKUM ENDE D. 15. JAHRH. IN ENGLAND 211

fein und bringt uns zu der bedeutsameren Seite der Kunst des Meisters,
die das 15. Jahrhundert nicht sah.

3. Das kunstvoll-künstliche Klagen höfischer Liebe und Galanterie,
das erfolgreiche Eindringen in den künstlichen allegorischen Garten ist
nur der Ausgangspunkt eines neuen Kunstwillens, der im Haus des
Ruhms zuerst fühlbar wird in dem Versuch, das ihm auf seiner Italien-
reise näher getretene klassische Material in die konventionelle Form der
Liebesvision zu gießen. Damit kommen anschauliche, wirklichkeitsnahe
Schilderungen hinein, die zu der, gotischer Formkonvention entsprunge-
nen Idee des Gedichts nicht mehr recht passen. Das ist etwas Neues,
kein der gotischen Formenwelt angehöriger Dichter hatte antike Entleh-
nungen zum Zwecke dramatisch-lebendiger realistischer Naturwahrheit
gemacht. Bei Chaucer nämlich sollen die antikischen Stoffe helfen, die
herkömmlichen Formen zu durchbrechen: die Antike ist- als Bereiche-
rung der Darstellungsmöglichkeiten gebraucht im Sinne einer die kon-
ventionelle Steifheit überwindenden dramatischen Bewegtheit, im Sinne
einer freien Geste und Gelöstheit des Körpers wie des Geistes, im Sinne
einer naturalistischen Welteroberung. Folglich ist es begründet, daß mit
dem Übernehmen antiken Guts sofort ein Hinausgehen über die Antike,
die ja doch auch eine Stil kunst war, verbunden ist.

Damit wird Chaucer ein bezeichnender und für die nordischen Län-
der früher Vertreter eines gemeineuropäischen Vorgangs, der selbst in
der bildenden Kunst Italiens statthat, wie Warburg an Botticelli nach-
wies, der in der Darstellung naturalistischer Gewandbewegtheit antik zu
sein vermeinte. Immer stärker wird diese bewußte Diesseitskunst, wofür
die kunstgeschichtlichen Belege bekannter zu sein pflegen; man denke
an die Baptisteriumstür in Florenz, an die Brüder Limburg, die man zur
Illustration Huizingas heranzog, und vor allem an Klaus Sluter, den be-
deutendsten naturalistischen Vertreter des Nordens. Daß Chaucer in
diese Bewegung hineingehört, beweist das Troilus und Criseyde-Epos,
denn hier wird das antike Material bewußt dazu verwendet, um den
ersten modernen realistisch-dramatischen Liebesroman zu formen. Alles
ist hier Gegensatz zur gotisch-mittelalterlichen Konvention. Hier ist
keine dame hautaine et cruelle, kein ewiger Mai im stilisierten Früh-
lingsgarten, hier ist eine wirkliche, lebendige junge Frau, die zur Liebe
erwacht, die das Auf und Ab der sinnlichen Leidenschaft durchlebt, die
treulos wird und deren neue Liebe dem Leser ebenso verständlich bleibt
wie des verlassenen Troilus Verzweiflung. Hier ist durch unbestreitbar
der Antike verdankte psychologische Wirklichkeit die Durchstoßung der
Tradition geschehen. Dementsprechend war die Wirkung, die das Werk
ausübte: wer immer dem formalen Frauenkult der höfischen gotischen
Tradition nahestand — und das waren vor allem die Damen des Hofs —
 
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