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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 28.1934

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Schirmer, Walter F.: Dichter und Publikum zu Ende des 15. Jahrhunderts in England
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https://doi.org/10.11588/diglit.14173#0236
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WALTER F. SCHIRMER

Lehre in die Geschichte hineingetragen ist. Nichts zeigt so sehr, daß
dies breit aufgerollte Rittertum im Grunde nur Außenseite ist, daß seine
Ideale nicht mehr gefühlt sind, als die Tatsache, daß Hawes diese höfische
Welt allein nicht für tragfähig ansieht, daß er den Helden auch in allen
Wissenschaften sich bewähren läßt, daß er eine große Allegorie zu dem
Ritterroman hinzufügt, die 7 artes aufmarschieren läßt und die an eine
Prüfung gemahnenden Gespräche des Helden mit den Damen Gram-
matica und Logica usw. in extenso ausmalt.

12. Diese Verbürgerlichung ist Folge des zu groß gewordenen Ab-
standes zwischen wirklicher und erträumter Welt, ist mithin weitgehend
ein Hineinragen der Wirklichkeit in die fiktive Welt. Während der Roman
Courtois den Ton gleichmäßig hochhielt, kommt jetzt gelegentlich, ohne
aber auch mit Absicht, ein derber und inmitten der gotischen Rhetorik
doppelt auffallender Ausdruck vor. Das steigert sich zum unhöfischen
Bild, die Damen machen einem Ritter, der Böses über Frauen sagte,
nicht mehr Vorhaltungen, sie schlagen ihn mit Gerten, womit eine bür-
gerliche Schulstube an Stelle des höfischen Zeremoniells tritt. Die Rede
des Zwerges, den Hawes seinem Helden zum Begleiter gibt, erinnert in
der derben und unflätigen Ausdrucksweise, daß er ein Zeitgenosse von
Seb. Brant istj ja diese ganze für die Handlung nicht weiter bedeutsame
Figur scheint einzig deshalb erfunden, um die Seite des Bürgertums
zu ihrem Recht kommen zu lassen, die im ganzen Mittelalter über Weib
und Priester spottete. Da kommen die Zoten, die uns nicht mehr deut-
baren, aber unzweifelhaft obszönen Anspielungen, die alten Fabliau-
themen von Aristoteles und seiner Frau und dem Zauberer Virgil. Es
handelt sich nicht darum, daß jetzt erstmals Bürgerliches in der Lite-
ratur auftauche, denn das ist längst da. Es handelt sich vielmehr darum,
daß das im ganzen Mittelalter vorhandene, aber auf die unteren Gat-
tungen beschränkte Bürgerliche die hohe Dichtung erobert, die demnach
gesenkt erscheint. Das ist nun das literaturgeschichtlich Bedeutsame, daß
trotz, ja sogar in und durch die für ein bürgerliches Publikum geschrie-
bene, an sich eine Sehnsucht nach dem schöneren Leben ausdrückende
Dichtung der Weg bereitet wurde für die sie ablösende, neue, huma-
nistische Literatur, die der schon einmal genannte Brant mit seinem
Narrenschiff (das einen Welterfolg hatte) gut verkörpert. Daß die
immer unwirklicher werdende und in ihrer Steigerung sich selbst auf-
lösende Traumwelt schon so viel neue und gegensätzliche Züge in sich
aufgenommen hatte, daß der Weg zu ihrem Gegenpol, zu der humani-
stisch-satirischen, konkreten, persönlichen Wirklichkeitsliteratur, nur ein
Schritt schien, gewissermaßen die Kehrseite der Münze, die das Bürger-
tum geprägt hatte, und deren beide Seiten es mit seinen Fingern befühlte.
 
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