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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 29.1935

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Schmarsow, August: Melchior Palágyis "Lehre von der Phantasie"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14176#0343
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BEMERKUNGEN

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legung jedes optischen Bildes hat zur Voraussetzung das Betasten des Dinges da,
damit das Gesichtsbild eben dorthin verlegt werden könne, wo das Ding selbst
durch die Tastwerkzeuge gefunden ward. Also ist der Besitz einer Tastwahrneh-
mung die stillschweigende Vorbedingung für die Ausbildung jeglicher optischen
Erkenntnis (S. 74).

Die Fähigkeit, in der Einbildung Bewegungen oder, wie man auch sagen
kann, virtuelle Bewegungen zu vollziehen, bildet die Grundlage unseres ganzen
Phantasielebens. Ohne virtuelle Bewegung kann es nirgends eine Wahrnehmung
von räumlich geordneten, gelagerten und gestalteten Dingen geben. Nur ein
Wesen, das nicht nur Empfindung hat, sondern auch Bewegungen und — was
die Hauptsache ist — auch virtuelle Bewegungen zu produzieren vermag, kann
eine Raumwahrnehmung besitzen. Nicht die Empfindungen sind es, die uns eine
Gestalt kundtun; Empfindungen sind nur da, um unsere Einbildung zu erregen,
und erst diese Einbildung ist es, die uns die Gestalt erfassen läßt. Bedecke ich
z. B. mit der Handfläche die kreisförmige Öffnung eines Bechers, so nehme ich
die Kreisform der Öffnung nicht vermittels der Empfindung wahr, die der Glas-
rand erweckt, sondern diese Empfindungen müssen erst meine Einbildung erregen
und zu einer eingebildeten Bewegung rund um den Glasrand herum veranlassen,
damit ich dessen Kreisform zu erfassen vermag (79).

Um den sensualistischen Einfluß, dem auch Kant trotz eifrigsten Wider-
strebens wieder anheimgefallen war, und dem sich vollends Wundt so gänzlich
ergeben hat, nun endlich zu überwinden, müssen wir eine Unterscheidung machen:
zwischen jener Einbildung, durch die unser Bewußtsein direkt an die Tatsachen
der reellen Umgebung gekettet wird, und jener andern Einbildung, die uns aus den
Ketten der reellen Umgebung befreit. Es gibt eine Einbildung, die unsern Geist
„abwesend" macht in Beziehung zu den auf unsere empfindenden Nerven wirken-
den reellen Vorgängen, und gewöhnlich wird nur diese abwesendmachende Ein-
bildung unter den Begriff der Phantasie gefaßt; aber es gibt — wie wir ja eben
zeigten — auch eine Einbildung, die durch die Empfindung der gegenwärtigen
Vorgänge angeregt wird, und der wir es verdanken, daß sich das Gegenwärtige
in seiner räumlichen Ordnung, Lagerung und Gestaltung vor uns zu entrollen
vermag. — Ich bezeichne diese letztere, die unser Bewußtsein an das Gegen-
wärtige bindet, und durch welche das Gegenwärtige zu einer räumlichen Um-
gebung ausgestaltet wird, als die direkte Phantasie und setze ihr als Anta-
gonistin die i n v e r s e Phantasie entgegen, durch welche unser Bewußtsein in der
reellen Umgebung zum Fremdling wird. Das ist die grundlegende Unterscheidung
in der Lehre von der Einbildung, und weil sie von der modernen Psychologie nicht
gemacht wird, vermag diese sich überhaupt nicht zu einer Theorie der Phantasie
aufzuraffen, sondern bleibt eine Sklavin der englischen Empfindungsphilosophie.

Unsere Einbildung vermag sich auf die Dauer nicht an das Gegenwärtige zu
heften, sondern springt in intermittierenden Pausen unwillkürlich von dem Vorliegen-
den ab, um freilich rasch wieder dahin zurückzukehren. Es ist ein ungeheuer kompli-
ziertes Wellenspiel; denn die Prozesse der Umgebung regen ja die mannigfachsten
Empfindungsvorgänge an und beschäftigen vollauf unsere direkte Einbildung, während
andrerseits Erinnerungsbilder der Vergangenheit und Hoffnungsbilder der Zu-
kunft emportauchen und die inverse Phantasie zur Betätigung locken. Diese Macht
offenbart sich jedermann, der sich durch Erfahrung wirklich belehren läßt, in ganz
ungesuchter Weise. Es ist das menschliche Gemüt mit seinen nie rastenden Ge-
fühls-, Stimmungs- und Leidenschaftswallungen. Wenn irgendein unbefriedigtes
physisches oder geistiges Bedürfnis in uns erwacht, sich durch immer lauter
pochende Gefühle oder Emotionen anmeldet, dann ist es bekanntlich mit dem
 
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