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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Dessoir, Max: "Der römische Brunnen"
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Wohlfarth, Paul: Die Frau am Fenster
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0077
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I

BEMERKUNGEN

63

Dürfen wir mit knappem Worte sagen: Ml ist wirklichkeitsnah, M2 gleichnis-
haft, R sinnbildlich? Wir beobachten, wie sich M2 durch Fortlassen alles nicht Wesen-
haften aus M 1 entwickelt hat, wie der Gegenstand, dem alle zufällige Umgebung
genommen ist, Ewigkeitswert gewinnt und die Form einen Höchstgrad von Sättigung
durch den Sinn empfängt. Aber wir dürfen auch nicht übersehen, daß M 2 und R
trotz ihrer kennzeichnenden Unterschiede Wahlverwandte sind und sich neben der
Blutsverwandtschaft zwischen M 1 und M 2 als zusammengehörig behaupten. M 2 hat
den Rhythmus eines Lebens, das mit seiner Welt in innigster Verbindung steht und
doch sicher in sich ruht, eines reichen und erfüllten Lebens. Das Gedicht selbst strömt
und ruht. Es ist ein vorbildliches Gleichgewicht. Bei Rilke ist das Strömen zum
Rieseln, das Gleichgewicht der Kräfte zum zarten Spiel geworden. Dort helle Durch-
sichtigkeit, hier Halbdunkel, dort Lebensbetrachtung, hier Innenversenkung. Arbeitet
Meyer in weißem Marmor, so spielt Rilke mit mattgefärbten Steinchen; steht jener
betrachtend, so dieser träumerisch ergriffen vor des Brunnens Wunderwerk. Meyer
macht ein Lebensgesetz sichtbar: daß das Leben durch dieselbe Kraft den Dingen
gibt und nimmt, ihnen Bewegung und zugleich Ruhe schenkt. Rilke läßt uns an einen
Wechseltausch der Seelen denken: eine Seele, sich der andern neigend, gibt ihr so viel,
daß die beschenkte reich genug wird, um weiter zu spenden.

Die drei Gebilde, jedes zusammengewachsen aus Klang und Sinn, jedes dem
andern ähnlich und doch von ihm verschieden, sollten nun nochmals vom Leser dieser
beschreibenden Deutung angeschaut werden.

Die Frau am Fenster

Von

Paul Wohlfarth

Das Fenster, als Motiv der Malerei überaus häufig und beliebt, scheint doch seine
ganze Vielgestaltigkeit und Fülle erst in Verbindung mit der Gestalt der Frau zu
offenbaren. Häufig freilich ist es nicht mehr als ein in das Bild hineingezogener
Rahmen, der besonders heraushebt, was er umschließt. So blicken auf den Außen-
flügeln des Genter Altars die beiden Stifter, Mann und Frau, klar sich abhebend von
dem dunklen Hintergrund, aus dem schlichten Maßwerk der Kirchenfenster andächtig-
hingegeben in unendliche Fernen. Mantegnas Berliner Darbringung, Quentin Massys
Brustbild einer Frau (Metropolitan New York), Hans von Kulmbachs Mädchen mit
der Katze (ebenda), Reinbrandts Mädchen hinter der Tür (1645), sie alle verkörpern
diesen einfachsten Typus des Aus-dem-Fenster-sehens. Zuweilen auch steht die Frau
vor einem Fenster, das blendet oder sonst keinen Durchblick gewährt, so Lorenzettis
Madonna del Latte in Siena, Konrad Witz" Verkündung im Germanischen Museum,
die Verkündung Jan van Eycks um 1434 (Sammlung Mellon in Washington). Eines
der ganz wenigen, uns tiefer berührenden Bilder des brillanten Dekorateurs Antonio
Cifrondi aus Brescia (1657—1730) ist ein nähendes Mädchen, das vor einem ver-
hängten Fenster sitzt, und Toulouse Lautrecs Dirne (Merion) öffnet gerade ein
Fenster, vor dessen greller Spiegelung sich ihre abstoßenden Züge scharf abheben.

So ergiebig das Motiv — und die Beispiele ließen sich beliebig vermehren — schon
hiernach ist, so hat es doch in dieser Begrenztheit noch nicht den eigentümlichen Reiz,
der ihm in Wahrheit zukommt. Denn wenn Jan van Eyck, Petrus Christus, Holbein
d. Ä., Lochner, Burckmair, Giovanni Bellini, vereinzelt auch Giorgione und Raffael
 
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