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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Hartlaub, Gustav Friedrich: Das Problem der Vergleichbarkeit: Vorbemerkungen zu einer vergleichenden Stilgeschichte von Musik und bildender Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0243
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DAS PROBLEM DER VERGLEICHBARKEIT

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schlage, Getragenheit und „Staccato", sei es daß man eine Linie, eine
Form und Farbfolge verfolgt oder daß man das Heben und Sinken
einer Melodie beobachtet: die Notenschrift selbst gibt, wenn man sich
etwa die melodisch zusammengehörigen Noten durch Striche verbunden
denkt, so etwas wie ein anschauliches Korrelat. Groß, lang — klein,
kurz, hell, hoch — dunkel, tief, auf und ab: sowohl die Polarität
wie auch die Bewegung zwischen ihnen begegnen uns als Urtat-
sachen im Raum- und Zeitkunstwerk, so verschieden die Elemente sein
mögen. Hatten wir also die Bewegung einer Linie mit gutem Recht einer
Melodie verglichen, durfte uns die Verschlingung von Linien, die
Vervielfältigung von linear zum Auge sprechenden Architekturgliedern
unter Umständen der Mehrstimmigkeit (Polyphonie), der Verschlingung
und Verwebung von melodischen Tonreihen verwandt erscheinen — so
ist mit Recht auch das Ornament der sogen. Koloratur, dem Me-
lisma, der formalistischen Schlußkadenz zu vergleichen, das heißt: sie
haben in den ihnen zugeordneten Künsten eine gleiche oder doch ähn-
liche Funktion. Das verbreitete Kunstmittel der Sequenz hat man ge-
legentlich das „Tapetenmuster" in der Musik genannt. Der Vergleich
ließe sich ausbauen. In der Tat bildet auch in der bildenden Kunst
(schematisch im Ornament und in der Baukunst, frei in den darstel-
lenden Künsten) die Wiederholung gleicher oder ähnlicher Figuren auf
verschiedener „Ebene", das heißt Höhen- oder Breitenlage, der Paral-
lelismus also, eines der elementarsten Kompositionsmittel.

Freilich sind keine Entsprechungen völlig eindeutiger Natur. Oft
hat sogar ein musikalisches Element ganz offensichtlich mehrere
bildnerischen Analogien und umgekehrt. Dafür ein Beispiel. Gelegent-
lich spricht man in der Malerei von einer „Farbmelodie". Gemeint
sind wohl die (nicht immer klar zu erfassenden) Fälle, wo durch linear
begrenzende Blickführung, perspektivische Mittel usw. das Nebenein-
ander von Farben subjektiv gern als ein Bewegungsakt, eine Folge
von eindeutiger Richtung, aufgefaßt wird. Erst recht gibt es dann auch
eine „Mehrstimmigkeit" solcher farbigen Stimmführung und eine
„Orchestration". Wie man in der Musik ein polyphones Nebeneinander
von einem harmonischen Zusammenklang trennt, so kennen wir auch
eine lokalfarbige, der Führung des Konturs gehorsame „Polychromie"
und im Gegensatz dazu eine zur „Tonigkeit" hinstrebende Vereinheit-
lichung des Farbcharakters. In der vergleichenden Entwicklungs-
geschichte der Künste läßt sich aber auch (wie wir bereits andeuteten)
dieselbe Polyphonie in ihrem Übergang zur (homophonen) Harmo-
nik mit der Entwicklung der Raumperspektive, die Gleichzeitigkeit im
Erklingen der Stimme mit dem Hintereinander perspektivischer Tiefen-
staffelung in Verbindung bringen, obschon das musikalisch Harmo-
 
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