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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 34.1940

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Hartlaub, Gustav Friedrich: Ewige Archaik: (über das Verhältnis bildender Kunst und Musik in den typischen Frühzeiten)
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https://doi.org/10.11588/diglit.14215#0017
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EWIGE ARCHAIK

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genannte vorgeschichtliche als auch die kurze geschichtliche Mensch-
heitsepoche verstehen —, muß nach ihrer natürlichen Beschaffenheit das
„Äußere" früher bringen als das „Innere" (Innerliche). Schauen geht vor
Vernehmen. Die Kunst des Sichtbar-Greifbaren für Auge und Getast „ist
eher da" oder hat doch den Vortritt vor der Kunst des Tönend-Unsicht-
baren, also für das Ohr und das innere Vernehmen! Wieviel verständlicher
und näher ist uns die Ornamentik, der Farbensinn, der handwerkliche
Geschmack unserer Naturvölker als ihre Musikausübung! Und wenn uns
die Tonkunst der Ägypter erklänge, die wir aus ihrem Instrumentenbau
nur noch erahnen können: wie viel fremder und ferner wäre sie uns als
die Reliefkunst der Tempel und Gräberbauten des alten Nillandes! Die
Musik ist „weiter zurück", der Wesensgrund, wo sie wurzelt, ist noch
nicht entfaltet. Ihr Zustand ist embryonal, keimhaft und gerade darum
heilig. Sie hat noch nicht vollständig ihre eigene Gesetzlichkeit gefunden.
Lassen wir uns vor einer Abbildung chinesischer Tempelarchitektur chine-
sische Tempelmusik vorspielen, haben wir wohl das Gefühl innerer Zu-
sammengehörigkeit. Derselbe Geist manifestiert sich uns, aber die eine
seiner Erscheinungsformen wird uns trotz ihres tropischen Wesens immerhin
verständlich, die andere mutet anfangs mindestens den nicht musik-
wissenschaftlich Eingestellten barbarisch an, solange wir sie für sich
aufzufassen suchen und nicht einfach die Gestalt der Instrumente und
der Musizierenden, ja die Klänge selbst als ein „akustisches Ornament"
in der sinnenverwirrenden Formfülle des Tempels empfinden.

Wir können in der Musikentwicklung grundsätzlich drei Stufen unter-
scheiden : Die erste „somatische" ist vor allem an den physischen Leib, die
Stofflichkeit (die üfai der Gnostiker) gebunden, sie ist dem Animalischen
im Menschen verhaftet. Die zweite gründet durchaus im Logos, im „Wort",
als der besonderen Offenbarung des Menschen und seiner Lebensseele,
die dritte ist die pneumatische, sie hebt sich über das Wort in die über-
leibliche und überwortliche Sphäre, wo die Tonkunst erst ganz zu sich
selbst kommt.

Hier beschäftigen wir uns mit der in der Hauptsache noch somatischen
Sprache der Musik, wie sie sich vor allem bei den Primitiven und einigen
Archaikern findet. Die Naturvölker legen, ähnlich wie die Kinder, beim
Singen auf den Sinn der Worte gar kein Gewicht, sinnlose Füllsilben
sind noch vielerorts auch im archaischen Umkreis beliebt. Es gibt noch
die Lust am körperlichen Hervorbringen des gleichsam „körperlichen"
Tons an sich. Erst in arabisch-persischer Kunstmusik finden wir eine
eigentliche Bindung der Melodie an Sprachrhythmus und -metrik; hier ist
bereits, wie in bezug auf die Tonarten erweislich ist, ein Einfluß des
antiken Griechenland fördernd gewesen. Mit dieser anfänglichen Be-
deutungslosigkeit des „Wortes" mag auch die geringe Entwicklung des
 
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