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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 34.1940

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Riemschneider-Hoerner, Margarete: Anschaulichkeit und Realität in Dantes Inferno
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https://doi.org/10.11588/diglit.14215#0135
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ANSCHAULICHKEIT UND REALITÄT IN DANTES INFERNO 121

unmittelbarer Anschaulichkeit und Lebenswahrheit hat Dante der mit
seiner Zeit gemeinsamen allegorischen Vorstellungswelt verliehen"1).

Da eben haben wir den Gegensatz. Hie das 14. Jahrhundert mit der
allegorischen Vorstellungswelt, dort Dante, der dieser allegorischen Vor-
stellungswelt Anschaulichkeit und, wie etwas weiter unten gesagt wird,
„plastische Realität" verleiht. Wir wollen uns bemühen, uns klar zu
machen, was geschieht, wenn Allegorien plastische Realität erhalten, und
ob dies überhaupt im Sinn des Dichters liegt und gelegen haben kann.
Denn an der Tatsache, daß die Göttliche Komödie von Anfang bis Schluß
ein rein allegorisches Werk ist und als solches verstanden werden will,
daran hat noch nie jemand gezweifelt, und es ist der Dichter selbst,
der uns darauf aufmerksam macht:

O voi ch'avete gl'intelletti sani,
Mirate la dottrina che s'asconde
Sotto'l velame delle versi strani2).

Für uns ist Anschaulichkeit und Lebenswahrheit ein Kriterium für
den Wert oder Unwert eines Kunstwerks schlechthin. Aber wissen wir
denn, ob dies Kriterium für Dante, der sehr viel von seiner Sendung
in der Welt hielt, überhaupt bestand? Vielleicht tun wir uns und ihm
gerade in diesem Punkt die größte Gewalt an, ohne sehen zu wollen,
daß die dichterische Schönheit und erhabene Weisheit dieses großen
Gedichtes aus ganz anderen Quellen getränkt wurde als aus Anschau-
lichkeit und Realität.

Aber schauen wir dem Kunstwerk mutig ins Gesicht! Wir wollen uns
nicht scheuen auf das hinzuweisen, was in unseren Augen ein Mangel
und eine Schwäche wäre, um daraus zu lernen, was dem Dichter be-
langlos, was aber andererseits für ihn wichtig und wesentlich ist. Denn
nur dann kann der ewige Gehalt des Kunstwerks entkleidet aller zeit-
lichen Beschränktheit wahrhaft rein und ungetrübt sich entfalten und
sich uns darstellen.

Inmitten des Irrwaldes (es ist ein geistiger Irrwald), den der Dichter
schlafwandelnd (das heißt geistig und sittlich gefesselt) betritt, begegnen
ihm drei allegorische Tiere: ein Panther (Sinnenlust), ein Löwe (Hoch-
mut) und ein Wolf (Habsucht). Gewinnen diese drei Tiere eine reale Ge-

G. Weise, Die geistige Welt der Gotik und ihre Bedeutung für Italien. Halle
1939, S. 274.

2) Inferno 9, 61. Ich gebe die Übersetzungen stets nach Witte, der, auf die
Terzinen verzichtend, durch die reimlosen Jamben im Deutschen der Schönheit und
Persönlichkeit der Danteschen Sprache am nächsten kommt.

Ihr, die gesund euch das Verständnis wahrtet,
Erwägt die Lehre wohl, die mit dem Schleier
Der Verse sich verhüllt, die seltsam lauten.
 
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