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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 34.1940

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Wiegand, Julius: Die episierende Lyrik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14215#0183
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DIE EPISIERENDE LYRIK

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stehen wollen. Unsere Definition der Lyrik muß weitherzig sein, den
ganzen Umfang der deutschen Lyrik, ja der Lyrik der Welt erfassen. Alles,
was nicht episch oder dramatisch ist, wollen wir einbeziehen, weil, zum
mindesten aufbautechnisch gesehen, in diesem Bezirk überall dieselben
Formen Geltung haben. Bei aller Anerkennung der Grad- und Wertstufen
in der Lyrik können wir uns nicht entschließen, wie das etwa Hirt tut
(Formgesetz der epischen, dramatischen und lyrischen Dichtung, Leipzig
1923), „Gedankenlyrik, Epigramm, Sinngedicht, satirische und groteske
Gedichte" ohne weiteres auszuscheiden. Was ist gewonnen, wenn man
das Epigramm an die „Rhetorik" überweist? Die Literaturwissenschaft
wird es dadurch nicht los. Und was wird mit einer besonderen Gattung
„Didaktik" erreicht? Wollen wir sie der Kulturgeschichte überlassen?
Unsere einen großen Bereich von Gedichten umfassende Definition der
Lyrik ist an Bestimmungen arm: Lyrik gestaltet ein Gefühls- oder Gedan-
kenerlebnis. Gar nicht in Frage kommt das Kennzeichen der Kürze, das
der Lyrikartikel des „Reallexikons" in Erwägung zieht. Es gibt Großlyrik
und Kleinlyrik, Großepik und Kleinepik. Zur Kleinepik zählen Fabel, Vers-
erzählung, Ballade usw.; die Großlyrik gehorcht denselben Aufbau-
gesetzen wie die Kleinlyrik, braucht hier also nicht besonders besprochen
zu werden; sie ist seit langem nicht mehr im Schwang, hat aber als philo-
sophisches und moralisches Lehrgedicht und als beschreibendes Gedicht
auch ihre Zeit gehabt. Die zahlreichen Kennzeichen der Lyrik, die noch
aufgeführt werden, sind entweder in der obigen Definition enthalten, oder
sie gelten nur für bestimmte, allerdings hochwertige Sonderformen der
Lyrik. Selbst die so lange der Lyrik zugestandene Subjektivität wird ihr
neuerdings abgestritten (Hans Jaeger in „Publications of the Modern
Language Association", 1933, Band 48).

Wenn die Ästhetiker die Lyrik gegen die Epik abgrenzen, haben sie
gewöhnlich die Großepik, vor allem Epos und Roman im Auge. In unserer
Untersuchung müssen wir als Widerpart der Lyrik die Kleinepik heran-
ziehen, vor allem die Ballade, und was ihr nahesteht. Die Kennzeichen,
die auf Groß- und Kleinepik zutreffen, sind folgende: Es werden Hand-
lungen um ihrer selbst willen dargestellt, Bewegung, Fortschritt in der
Zeit; es wird erzählt, ein Erzähler steht einem Hörer gegenüber, auch
wenn der Dichter dies zu verschleiern sucht. Erzählung besteht aus Be-
richt, Szene, Beschreibung (meist als Bestandteil der Szene) und oft auch
aus den persönlichen Bemerkungen des Erzählers. Die Kleinepik, besonders
auf ihrer höchsten Stufe, der Ballade, widerstreitet oft den Kennzeichen der
Großepik, vor allem des Romans, weist „dramatische" Spannung, kräftige
äußere Handlung, reiche Umschläglichkeit, auf der Spitze stehende Ent-
scheidung, Spiel und Gegenspiel bei straffer Erzählart auf (also nichts
von epischer Ruhe und Breite). Belanglos ist es hier, ob man von der Bai-
 
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