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Rilkes WeMialtung in den „Duineser Elegien"

Grundsätzliches zur Frage der wissenschaftlichen Interpretation

Von

Helmut Wocke
I.

Während des ersten Weltkrieges hörte Rilke in München den letzten
der drei Vorträge, die Alfred Schuler über das „Wesen der ewigen Stadt"
hielt. „Stellen Sie sich vor", schrieb der Dichter am 10. Juni 1915 an die
Fürstin von Thurn und Taxis-Hohenlohe, „daß ein Mensch, von einer
intuitiven Einsicht in das alte Rom her, eine Welterklärung zu geben
unternahm, welche die Toten als die eigentlich Seienden, das Toten-Reich
als ein einziges unerhörtes Dasein, unsere kleine Lebensfrist aber als
eine Art Ausnahme davon darstellte"1). Was ihn an der Persönlichkeit
des Redners fesselte, war dies: daß er in ihr das Geheimnis, das un-
ergründliche, „als Dasein" gegeben sah, als ein wirklich Vorhandenes.
Und weiterhin dies: daß Schulers Darlegungen sich auf ein Ganzes hin
bewegten, auf das Ganze, auf die untrennbare, im Wesen des Seins und
der Natur begründete Einheit. Später bekannte Rilke brieflich: „In den
Sonetten an Orpheus steht vieles, was auch Schuler zugegeben haben
wurde; ja wer weiß, ob nicht manches davon so offen und geheim zu-
gleich auszusagen, mir aus der Berührung mit ihm herüberstammt; ich
selbst habe diese Gedichte ... erst jetzt, im Vorlesen, nach und nach be-
greifen und genau weitergeben gelernt2)".

Rilke war eine weltoffene, in diesem Offensein freilich gefährdete
Natur. Offen für das Leben in seiner Unbegrenztheit, für die rhythmi-
schen Ströme und Strömungen im All, für die im All webenden, walten-
den, einenden und zerstörenden Kräfte, die Mitte suchend und ihr zu-
gewandt, im Augenblick das Ewige ahnend. Er ging — der sich ent-
scheidende, der eigentliche Rilke, der er in dem „Malte" wurde und seit
dem „Malte" ist — er ging den Weg bis hin zu den Urmächten, in
einem Zurück, das zugleich ein Vorwärts war oder werden sollte, zum

') Briefe aus den Jahren 1914—1921, S. 44.
2) Briefe aus Muzot (9.—11. Tausend), S. 207 f.
 
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