Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft: Zweiter Kongreß für Ästhethik und allgemeine Kunstwissenschaft Berlin, 16.-18. Oktober 1924 — 19.1925

DOI Artikel:
Herrmann, Helene: Lyrisches Schaffen und feste Formgebilde der Lyrik
DOI Artikel:
Mitbericht
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3819#0268

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
LYRISCHES SCHAFFEN UND FESTE FORMGEBILDE DER LYRIK. 261

Vers ist hier kein Aushallen mehr, ist wie jäh befremdetes Dastehen
der außer sich geratenen Seele1). All das drückt sinnlich vollkommen
den Bedeutungsgehalt dieser Strophe aus — das ganz Erschüttertsein
von der Gegenwart des Schönen; hier hat sich die Form, wo ihr bisher
gültiger Sinn zersprengt scheint, im wahrhaftesten Sinne als Form er-
wiesen.

Und also zum Schlüsse. Die seelische Spannweite fester lyrischer
Formgebilde ist sehr groß. Gerade in verwickelten Strukturen kann
die Erfüllung vielfältig sein, nicht nur durch die rhythmische Veränder-
lichkeit der Einzelverse infolge verschiedenartiger sprachlicher Füllung,
sondern durch die Vermählung verschiedener Sprachstile mit dem
eigentlichen Strukturcharakter der Strophe, dadurch ferner, daß der
Dichter bei verschiedenen möglichen Richtungszügen innerhalb der
Strophe eine beleuchten, andere verschatten kann.

Das vermag er durch verschiedene Lagerung der sinngebenden
Faktoren. Gleicher Gehalt, gleiche Höhenlage des Gefühls erscheinen
dann in derselben Form durch einen ganz verschiedenen Ablauf der
Empfindung gleich gut dargestellt. Eine scheinbare Zerstörung der
lange geübten Formerfüllung in einem Formteil kann höchste Erfüllung
im ganzen bedeuten. All das ist möglich, weil die Einheit der Strophe
nur eine Relation der Glieder ist, der wir erst Bedeutung unter-
•egen. So oft wir durch die Behandlungsweise dieser Relation ge-
zwungen werden, sie in ganz neuem seelischen Sinne zu deuten, so
oft vermag die Strophe eine Neugeburt zu erleben.



Mitbericht.
Eduard Ortner:

Es liegt nicht in meiner Absicht, die feinsinnige Untersuchung über
die Funktion der Strophe in der Lyrik, die Ihnen soeben vorgelegt
wurde, nach irgend einer Seite hin weiter auszubauen, so sehr es mich
auch hierzu verlocken würde; ich halte es augenblicklich für wichtiger,
Ihre Aufmerksamkeit auf dasjenige Grundproblem zurückzulenken, von
dem jene Untersuchung ihren Ausgang nahm: das Problem, warum
die festen Formen gerade der Lyrik vorzugsweise eignen. Nicht alle
Lyrik bewegt sich zwar in solch festen Formen, aber es ist doch nicht
zu leugnen, daß diese der lyrischen Darstellung in ganz anderer Weise
entgegenkommen als etwa der epischen oder gar der dramatischen.

Die Lösung des Problems kann nun meines Erachtens nur durch
die begriffliche Klärung dessen, was Lyrik ihrem Wesen nach ist, ge-

') In dem letzten, unvollkommen überlieferten Vers scheint denn auch formal
Beruhigung einzutreten.

eine
 
Annotationen