Von Julius Meyer.
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gesucht Hat, das ihm erlaubte, ein schönes Weib mit dem Ausdruck des Entsetzens zwischen
der nackten Gestalt der Wollust und dem scheußlichen Bilde des Todes darzustellen: ein
lebensgroßes Rebus, aus dem sich schlechterdings nicht klug werden laßt und das, wenn-
gleich nicht ohne manche gute Eigenschaften, verstanden wie unverstanden gleich reizlos ist.
Doch es lohnt sich nicht, bei diesen Ausläufern des Idealismus länger sich auszu-
halten. In ihnen tritt die von allen Idealen entleerte Phantasie der Zeit unverhüllt zu
Tage, so wie die Tantalusarbeit, mit der die neue Kunst nach einem neuen Inhalte ringt,
der doch immer wieder ihren Händen entschlüpft, indem sie ihn zu greifen meint. Sie
geben den Beweis, daß die überlieferte Welt der Götter und der aus dem schaffenden
Genius der Völker geborenen Jdealgeftalten in Trümmer gefallen und keine Hand mehr im
Stande ist, sie wieder aufzubauen. Sie endlich haben den tiefen Mangel der modernen
idealen Kunst thatsächlich aufgedeckt: den nämlich, daß in die einfache Schönheit der ge-
läuterten Form das Leben der Gegenwart und die ganze reale Welt, in welcher der mensch-
liche Geist nun heimisch ist, sich nicht fassen lassen, daß daher die klassische Hülle von dem
treibenden Puls des Jahrhunderts nicht bewegt und erwärmt wird.
2.
Zweite Gruppe. Der Idealismus mit dem Reize der modernen Sinnlichkeit.
Doch, so entgegen ihm die Zeit auch sein mag, das Reich der reinen über die Wechsel-
fälle des Daseins erhöhten Formenschönheit kann die Kunst niemals ganz entratheu. Ihr
sind ein Bedürfniß die vollendeten Gestalten, deren Dasein im bruchlosen Einklang von
Leib und Seele nichts Anderes ist als ihre Helle Erscheinung im Lichte des Tages, und sie
immer aufs Neue uns vorzuführen als die ideale Gewißheit eines harmonisch in sich
befriedigten Lebens, ist eines ihrer unverlierbaren Vorrechte. Mögen sie daher für die
Phantasie des Jahrhunderts immerhin eingewanderte Gäste sein, so haben sie doch im un-
vergänglichen Gebiete des allen Zeiten gemeinsamen Geistes ihr angeborenes Bürgerrecht.
Nur kann sich zu dieser reinen Formenfreude, welche an dem bescheidenen Inhalt einer
still in sich gesammelten und ganz in ihren Leib ausgestrahlten Seele sich genügt, die
neueste Zeit, so scheint es, nicht mehr aufschwingen. Dazu ist sie einerseits zu sinnlich
materiell, andererseits zu beziehungsreich geworden.
An einer greifbareren Schönheit, die ihm in lockendem Zauberbilde die reizende Wirk-
lichkeit enthüllt, an einer solchen, die es begehren und besitzen kann, hat das Geschlecht des
zweiten Kaiserreichs sein Wohlgefallen. Wie unter der Regence und Ludwig XV. spielt
auch nun wieder die schönere Hälfte der Nation eine ebenso zweideutige als glänzende
Rolle. Nur daß sie jetzt, systematisch, wie einmal das Jahrhundert ist, eine eigene privile-
girte Klasse bildet, die berühmte „Halbwelt", in die sich freilich neuerdings auch ein guter
Theil verheiratheter Frauen eingeschmuggelt hat. Das Weib zu verherrlichen, das nun
mehr als je die Sinne beschäftigt, seit sich mit Beihülfe der Regierung der Geist der
großen anstrengenden Ideen entledigt hat, erscheint auch jetzt noch — wie immer — als
eine würdige Aufgabe der Kunst. Zur Genüge ist auch in Deutschland die Romanliteratur
bekannt, an deren Spitze A. Dumas der Sohn steht, die mit unleugbarem Geschick die
Empfindungen und Erlebnisse der modernen Kurtisane schildert und in der Darstellung
ihrer Konflikte mit der bürgerlich sittlichen Welt des Lesers Phantasie und Seele für das
ebenso verführerische als rührende Schicksal der gefallenen Schönheit zu gewinnen weiß.
Ihrerseits kann sich freilich die bildende Kunst nicht ebenso tief in diese lasterhaft an-
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gesucht Hat, das ihm erlaubte, ein schönes Weib mit dem Ausdruck des Entsetzens zwischen
der nackten Gestalt der Wollust und dem scheußlichen Bilde des Todes darzustellen: ein
lebensgroßes Rebus, aus dem sich schlechterdings nicht klug werden laßt und das, wenn-
gleich nicht ohne manche gute Eigenschaften, verstanden wie unverstanden gleich reizlos ist.
Doch es lohnt sich nicht, bei diesen Ausläufern des Idealismus länger sich auszu-
halten. In ihnen tritt die von allen Idealen entleerte Phantasie der Zeit unverhüllt zu
Tage, so wie die Tantalusarbeit, mit der die neue Kunst nach einem neuen Inhalte ringt,
der doch immer wieder ihren Händen entschlüpft, indem sie ihn zu greifen meint. Sie
geben den Beweis, daß die überlieferte Welt der Götter und der aus dem schaffenden
Genius der Völker geborenen Jdealgeftalten in Trümmer gefallen und keine Hand mehr im
Stande ist, sie wieder aufzubauen. Sie endlich haben den tiefen Mangel der modernen
idealen Kunst thatsächlich aufgedeckt: den nämlich, daß in die einfache Schönheit der ge-
läuterten Form das Leben der Gegenwart und die ganze reale Welt, in welcher der mensch-
liche Geist nun heimisch ist, sich nicht fassen lassen, daß daher die klassische Hülle von dem
treibenden Puls des Jahrhunderts nicht bewegt und erwärmt wird.
2.
Zweite Gruppe. Der Idealismus mit dem Reize der modernen Sinnlichkeit.
Doch, so entgegen ihm die Zeit auch sein mag, das Reich der reinen über die Wechsel-
fälle des Daseins erhöhten Formenschönheit kann die Kunst niemals ganz entratheu. Ihr
sind ein Bedürfniß die vollendeten Gestalten, deren Dasein im bruchlosen Einklang von
Leib und Seele nichts Anderes ist als ihre Helle Erscheinung im Lichte des Tages, und sie
immer aufs Neue uns vorzuführen als die ideale Gewißheit eines harmonisch in sich
befriedigten Lebens, ist eines ihrer unverlierbaren Vorrechte. Mögen sie daher für die
Phantasie des Jahrhunderts immerhin eingewanderte Gäste sein, so haben sie doch im un-
vergänglichen Gebiete des allen Zeiten gemeinsamen Geistes ihr angeborenes Bürgerrecht.
Nur kann sich zu dieser reinen Formenfreude, welche an dem bescheidenen Inhalt einer
still in sich gesammelten und ganz in ihren Leib ausgestrahlten Seele sich genügt, die
neueste Zeit, so scheint es, nicht mehr aufschwingen. Dazu ist sie einerseits zu sinnlich
materiell, andererseits zu beziehungsreich geworden.
An einer greifbareren Schönheit, die ihm in lockendem Zauberbilde die reizende Wirk-
lichkeit enthüllt, an einer solchen, die es begehren und besitzen kann, hat das Geschlecht des
zweiten Kaiserreichs sein Wohlgefallen. Wie unter der Regence und Ludwig XV. spielt
auch nun wieder die schönere Hälfte der Nation eine ebenso zweideutige als glänzende
Rolle. Nur daß sie jetzt, systematisch, wie einmal das Jahrhundert ist, eine eigene privile-
girte Klasse bildet, die berühmte „Halbwelt", in die sich freilich neuerdings auch ein guter
Theil verheiratheter Frauen eingeschmuggelt hat. Das Weib zu verherrlichen, das nun
mehr als je die Sinne beschäftigt, seit sich mit Beihülfe der Regierung der Geist der
großen anstrengenden Ideen entledigt hat, erscheint auch jetzt noch — wie immer — als
eine würdige Aufgabe der Kunst. Zur Genüge ist auch in Deutschland die Romanliteratur
bekannt, an deren Spitze A. Dumas der Sohn steht, die mit unleugbarem Geschick die
Empfindungen und Erlebnisse der modernen Kurtisane schildert und in der Darstellung
ihrer Konflikte mit der bürgerlich sittlichen Welt des Lesers Phantasie und Seele für das
ebenso verführerische als rührende Schicksal der gefallenen Schönheit zu gewinnen weiß.
Ihrerseits kann sich freilich die bildende Kunst nicht ebenso tief in diese lasterhaft an-