Winckelmann. Von Karl Justi.
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irgend Einem fremdartig geblieben, ja gegen Ende des Lebens notorisch feindselig und häßlich er-
schienen; er hat aber ans seinem vieljährigen Dienst in Currende und Chor die Liebe zu Kernliedern
der lutherischen Kirche auch in die Zeiten, wo er als Abbate unter Kardinälen lebte, sich bewahrt. Die
Erinnerung an des Knaben Forscherdrang, der Hünengräber umwühlt und „Heidenbötte" sammelt,
knüpfd sich in Stendal noch heute an einige dieser aufbewahrten Afchengefäße. In dem „neueröffneten
adeligen Ritterplatz", einem Werke für die Ausbildung junger Cavaliere, besonders auch als Vorbe-
reitung auf ihre Reisen bestimmt, das die Schulbibliothek darbot, sieht der vom Sudeu, von Römern und
Griechen träumende junge Lateiner zuerst Abbildungen von Bauwerken und Raritäten. Auf der Univer-
sität Halle sind es die Büchersäle dreier Bibliotheken, die ihn stundenlang fast täglich anziehen, wo er
bestaubte Griechen aus ihrer Vergessenheit herausholt. Von Kunst und Alterthum hört er wenig
genug, doch siehe da, eiu Prosessor der Medicin und der Literatur, I. H. Schulze, trägt 1738
zum ersten Male römische und griechische Antiquitäten nach Münzen vor und läßt die alten Götter
nach ihren Konterfeis aus wirklich antiken, zunächst römischen Münzen schauen, die Götter, die für
Winckelmann bereits in Homer, in Sophokles, in Herodot, die er aus eigenstem Antriebe heraus las,
Leben und Gestalt gewonnen Hatten. Und in Baumgarten's Vorlesungen über die neue, von
ihm zuerst gesonderte Wissenschaft der Aesthetik, die er eifrig hörte, war die bildende Kunst ver-
geffen!
Weder in Jena noch auf der verunglückten Fahrt nach Paris, die in Gelnhausen endete, noch
in Hadmersleben, noch endlich im langen schweren Schuldienste zu Seehausen war ihm eine irgend
nennenswerthe Kunsterscheinung, die tief auf ihn gewirkt, geboten. Wir hören auch durchaus nicht,
daß er selbst zu sammeln und am Gesammelten im kleinen, engen Raume des eigenen Heim sich zu
erfreuen begonnen; nein, er strebt hinaus, er will am Fuße der Pyramiden die Quellen der alten
Kunst studiren und inzwischen sitzt er wie ein Polyp an seinen geliebten Alten, au der moderusten
französischen und englischen Literatur, an Philosophie und deutscher Geschichte. Doch die
wunderbare Bialerei, die volle Greifbarkeit homerischer Schilderungen, die Anschaulichkeit Herodot's,
die Umgränzung sophokleischer Gestalten, die Ideen Platon's, sein Preis der Liebe als der schöpfe-
rischen Macht der Schönheit, füllen seine Seele. Und es drängt ihn dabei hinaus zu den getrennten,
heiß geliebten jungen Freunden, an denen er mit sinnlichgefärbter Gluth der Leideuschaft häugt.
Er wandert alljährlich nach Leipzig und hier ist es, wo er neben den Buchläden, neben dem
Modeschneider vor allem die Privatsammlungen der Richter und Winkler aufsucht. Daß daselbst
Prof. Christ aus Koburg, der feinsinnige, vielseitige, vielgereiste Mann, Kolleg über alte Kunst,
freilich unter dem wunderlichen Namen der „Literatur" las, schien er kaum zu wissen oder nicht zu
beachten.
Nun ist er endlich seit dem Jahre 1748 von seiner Stellung in Seehausen erlöst, er wandert
aus dem armen despotischen Preußen in das damals glänzende, heitere Sachsen, er ist als dritter
Bibliothekar des Grafen v. Bünau in Nöthenitz, eine Stunde von Dresden, und Dresden ward
damals immer mehr das „Athen" des Nordens. Freilich auch jetzt liegt seine tägliche Berufsauf-
gabe weit ab von Kunst und Kunstgeschichte, sie liegt im Anfertigen eines wissenschaftlichen Kata-
loges der italienischen Literatur des Völkerrechtes, in Arbeiten für die Zeiten der Merovinger und
der sächsischen Kaiser. Vor seinem geistigen Auge entfaltet sich immer mehr das Bild einer neuen
Geschichtswelt, in der das Allgemeine und das Individuelle, in der die ganze menschliche Kultur
neben der Politik zu ihrem Rechte gelangt. Aber Dresdens Kunst ist schon der Magnet geworden,
der ihn unwiderstehlich anzieht; endlich, endlich hat er die Erlaubniß bekommen, die Galerie zu jeder
Zeit zu sehen, und da läuft er aller acht Tage Hineiu, den Vormittag oder nach Tische; nichts an-
deres dort lockt ihn, er hat „nicht ein einziges Mal nur eine Promenade in Dresden genossen".
Das zweite Kapitel des zweiten Buches (S. 245—301) „die Bilder aus der Dresduer
Kunstwelt" ist, ganz abgesehen von Winckelmann, ein werthvoller Beitrag zur Kunstgeschichte des
vorigen Jahrhunderts. Der Vers, knüpft mit vollem Rechte an die Kunstliebe der sächsischen
Fürsten, die seit den Zeiten von Kursürst Moritz nie erloschen war, unter Kurfürst Christian um
1587 bereits die Bildung einer Kunsttammer veranlaßte, unter den drei Georgen (1611—1694)
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irgend Einem fremdartig geblieben, ja gegen Ende des Lebens notorisch feindselig und häßlich er-
schienen; er hat aber ans seinem vieljährigen Dienst in Currende und Chor die Liebe zu Kernliedern
der lutherischen Kirche auch in die Zeiten, wo er als Abbate unter Kardinälen lebte, sich bewahrt. Die
Erinnerung an des Knaben Forscherdrang, der Hünengräber umwühlt und „Heidenbötte" sammelt,
knüpfd sich in Stendal noch heute an einige dieser aufbewahrten Afchengefäße. In dem „neueröffneten
adeligen Ritterplatz", einem Werke für die Ausbildung junger Cavaliere, besonders auch als Vorbe-
reitung auf ihre Reisen bestimmt, das die Schulbibliothek darbot, sieht der vom Sudeu, von Römern und
Griechen träumende junge Lateiner zuerst Abbildungen von Bauwerken und Raritäten. Auf der Univer-
sität Halle sind es die Büchersäle dreier Bibliotheken, die ihn stundenlang fast täglich anziehen, wo er
bestaubte Griechen aus ihrer Vergessenheit herausholt. Von Kunst und Alterthum hört er wenig
genug, doch siehe da, eiu Prosessor der Medicin und der Literatur, I. H. Schulze, trägt 1738
zum ersten Male römische und griechische Antiquitäten nach Münzen vor und läßt die alten Götter
nach ihren Konterfeis aus wirklich antiken, zunächst römischen Münzen schauen, die Götter, die für
Winckelmann bereits in Homer, in Sophokles, in Herodot, die er aus eigenstem Antriebe heraus las,
Leben und Gestalt gewonnen Hatten. Und in Baumgarten's Vorlesungen über die neue, von
ihm zuerst gesonderte Wissenschaft der Aesthetik, die er eifrig hörte, war die bildende Kunst ver-
geffen!
Weder in Jena noch auf der verunglückten Fahrt nach Paris, die in Gelnhausen endete, noch
in Hadmersleben, noch endlich im langen schweren Schuldienste zu Seehausen war ihm eine irgend
nennenswerthe Kunsterscheinung, die tief auf ihn gewirkt, geboten. Wir hören auch durchaus nicht,
daß er selbst zu sammeln und am Gesammelten im kleinen, engen Raume des eigenen Heim sich zu
erfreuen begonnen; nein, er strebt hinaus, er will am Fuße der Pyramiden die Quellen der alten
Kunst studiren und inzwischen sitzt er wie ein Polyp an seinen geliebten Alten, au der moderusten
französischen und englischen Literatur, an Philosophie und deutscher Geschichte. Doch die
wunderbare Bialerei, die volle Greifbarkeit homerischer Schilderungen, die Anschaulichkeit Herodot's,
die Umgränzung sophokleischer Gestalten, die Ideen Platon's, sein Preis der Liebe als der schöpfe-
rischen Macht der Schönheit, füllen seine Seele. Und es drängt ihn dabei hinaus zu den getrennten,
heiß geliebten jungen Freunden, an denen er mit sinnlichgefärbter Gluth der Leideuschaft häugt.
Er wandert alljährlich nach Leipzig und hier ist es, wo er neben den Buchläden, neben dem
Modeschneider vor allem die Privatsammlungen der Richter und Winkler aufsucht. Daß daselbst
Prof. Christ aus Koburg, der feinsinnige, vielseitige, vielgereiste Mann, Kolleg über alte Kunst,
freilich unter dem wunderlichen Namen der „Literatur" las, schien er kaum zu wissen oder nicht zu
beachten.
Nun ist er endlich seit dem Jahre 1748 von seiner Stellung in Seehausen erlöst, er wandert
aus dem armen despotischen Preußen in das damals glänzende, heitere Sachsen, er ist als dritter
Bibliothekar des Grafen v. Bünau in Nöthenitz, eine Stunde von Dresden, und Dresden ward
damals immer mehr das „Athen" des Nordens. Freilich auch jetzt liegt seine tägliche Berufsauf-
gabe weit ab von Kunst und Kunstgeschichte, sie liegt im Anfertigen eines wissenschaftlichen Kata-
loges der italienischen Literatur des Völkerrechtes, in Arbeiten für die Zeiten der Merovinger und
der sächsischen Kaiser. Vor seinem geistigen Auge entfaltet sich immer mehr das Bild einer neuen
Geschichtswelt, in der das Allgemeine und das Individuelle, in der die ganze menschliche Kultur
neben der Politik zu ihrem Rechte gelangt. Aber Dresdens Kunst ist schon der Magnet geworden,
der ihn unwiderstehlich anzieht; endlich, endlich hat er die Erlaubniß bekommen, die Galerie zu jeder
Zeit zu sehen, und da läuft er aller acht Tage Hineiu, den Vormittag oder nach Tische; nichts an-
deres dort lockt ihn, er hat „nicht ein einziges Mal nur eine Promenade in Dresden genossen".
Das zweite Kapitel des zweiten Buches (S. 245—301) „die Bilder aus der Dresduer
Kunstwelt" ist, ganz abgesehen von Winckelmann, ein werthvoller Beitrag zur Kunstgeschichte des
vorigen Jahrhunderts. Der Vers, knüpft mit vollem Rechte an die Kunstliebe der sächsischen
Fürsten, die seit den Zeiten von Kursürst Moritz nie erloschen war, unter Kurfürst Christian um
1587 bereits die Bildung einer Kunsttammer veranlaßte, unter den drei Georgen (1611—1694)