Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für bildende Kunst — 2.1867

DOI article:
Meyer, Julius: Ingres
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.71569#0218
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
172

Ingres.

nach wie vor die immergültige Darstellung des menschlichen Leides fand, Raffael sein
Muster. Allein was ihm dabei immer als die wesentlichste Bedingung für den Künstler
erschien, das war die treueste Hingabe an die Natur, die gewissenhafteste Arbeit, sie gründ-
lich verstehen zu lernen und ihrer Herr zu werden. „Nicht eine Hand, nicht einen Finger
aus dem Gedächtniß zu zeichnen",, war einer seiner Grundsätze. Man müsse die Natur an-
beten, um ihr geheimstes Wesen ihr abzulauschen; aber auch ihr geraden Weges auf den
Leib rücken, um von ihr zu erhalten, was man bedürfe. Nur hätten, das war seine un-
verbrüchliche Ueberzeugung, die Griechen und die Cinquecentisten, insbesondere jene beiden
Meister, ein- für allemal die mustergültige Weise gefunden, wie die Naturerscheinung in
den idealen Schein zum vollendeten Ausdruck des Lebens zu erheben sei. Die Natur also
selbständig ausfassen und doch in dieser Weise verstehen und wiedergestalten zu lernen, erschien
ihm als seine Aufgabe.
Mit unbeugsamer Willensstärke und Ausdauer verfolgte er während seines langen
italienischen Aufenthaltes dieses Ziel. Denn Rom war ihm zur zweiten Heimat geworden,
die er auch uach Ablauf feiner fünfjährigen Studienzeit nicht verlassen mochte. Was immer
im fernen Vaterlande vorging, kümmerte ihn nicht; weder die napoleonischen Siegeszüge,
noch die Noth und die schweren Wechselfälle Frankreichs, noch auch die Wandluugen des
geistigen Lebens. Früh verräth sich hier die Uebereinstimmung zwischen dem Manne und
seiner Kunst. Nichts hatte diese gemein mit den Interessen, welche die Zeit bewegten.
Abseits von den kämpfenden Gewalten des Jahrhunderts flüchtet sie in ein blasses Schatten-
reich, wo sich heidnische uud christliche Jdealgeftalten der Schönheit ihres unberührten Leibes
freuen. Diese Gebilde wiederzubeleben, sie mit dem Saft der Natur auf's Neue zu tränken,
das allein lag dem Maler am Herzen. Und daran setzte er alle seine Kräfte, seine ganze
Existenz, dazu ertrug er mit bewundernswerther Zähigkeit Sorgen und Entbehrung. Es
war ein schwerer Weg, den er ging, ohne Gefährten, von keiner zustimmenden Menge
getragen nnd nur auf sich selber angewiesen. Zudem brachen nun Harte Zeiten über ihn
herein. 18l3 hatte er in einer Landsmännin eine liebenswürdige Frau gefunden, die ihm
aber außer einem bescheidenen und ergebenen Gemüth nichts zubrachte; um so schwerer
drückte ihn die Last des Haushaltes, als er sich in Rom nach dem Abzug der Franzosen
im I. 18l4 ganz verlassen saud. Allein nichts konnte ihn bewegen, dem Zeitgeschmack,
den Wünschen des Publikums irgend eine Einräumung zu macheu. Ein wahrer Feuergeist,
hielt er seiue Ueberzeugung mit einer Entschiedenheit fest, die bis zum Eigensinn ging und
jede andere Anschauung verwarf. „Weg damit aus meinen Augen", soll er einmal ausge-
rufen haben, als man auf die Staffelei vor ihm eiu Bild von Decamps stellte. Dem
Wesen des Mannes entspricht der Zug wohl. Er hatte eine heiße südliche Natur, deren
Lebhastigkeit sich stoßweise Luft machte, ihu behend und aufbrausend bis an sein Ende
erhielt uud merkwürdig mit jeuer metallenen Energie sich mischte. Ueber Dinge und Ver-
hältnisse, die seiner Kunst entgegen waren, konnte er außer sich gerathen, wie ein Kind sich
erzürnen und geberden. Andrerseits bewährte er zeitlebens die edelste Begeisterung für
seine Sache, nicht bedacht auf Erwerb und Ruhm, sondern immer auf die höchste künstlerische
Vollendung.
Schwer brach er sich auch in der öffentlichen Meinung Bahn. Nicht geringes Auf-
sehen zwar, aber auch scharfe Augriffe erregten die Bilder, die er im Salon v. 1819 aus-
stellte, eine Odaliske und die Befreiung der Angelika durch Rüdiger (nach Ariost,
jetzt im Lnxembourg). Die steife klassische Linie David's und sein gespreiztes Pathos sind
hier überwunden; in den nackten Gestalten ist bei durchgebildeter Form doch eine gewisse
Naturfülle und ein eigenthümlich empfundenes Leben. Allein einen Abfall sahen darin die
 
Annotationen