Kopfleiste aus dem Schlosse in Würzburg. Zeichnung von H. Zeibio.
DAS KUNSTGEWERBE ALS NÄHRQUELLE FÜR DAS HANDWERK.
VON DR. ERNST GHO'M IN LEIPZIG.
H IR leben in einer aufgeregten,
gährenden Zeit, wo die Gegen-
sätze mit aller Macht aufeiii-
anderplatzen, und das historisch
Gewordene, vor allein der deut-
sche Mittelstand seine Lebens-
kraft beweisen soll. Die kapita-
listische Großindustrie und das
Proletariat sind die beiden ge-
waltigen Mühlsteine, zwischen die der arbeitende Mittel-
stand etwa seit einem Menschenalter geraten ist. Der
Bauernstand und der Handwerkerstand, diese beiden
mächtigsten Grundpfeiler des nationalen und wirtschaft-
lichen Lebens, haben unter dem Zerreibungsprozess am
meisten zu leiden gehabt, und sie kämpfen und ringen
mit allen Mitteln, um aus dieser gefährlichen Lage zwischen
zwei rücksichtslos vordringenden Gewalten herauszu-
kommen.
Es handelt sich hierbei um einen Kampf ums Dasein,
aber nicht allein um das eigene Dasein, um die wirt-
schaftliche Selbständigkeit des arbeitenden Mittelstandes,
sondern vor allem auch um die sichere Grundlage unsrer
bürgerlichen und staatlichen Einrichtungen. Ein Staat.
der diese gefährlichen Zustände nicht einsähe und für
die Lebensfähigkeit des ruhigen sesshaften Mittelstandes,
vor allem des Handwerkerstandes, nichts thäte. würde
Kunstgewerbeblatt. N. V. VI. H. 8.
(Nachdruck verboten.)
die festeste Stütze seines Baues unwiederbringlich ver-
lieren. Kein "Wunder, dass der Staat und auch die meisten
politischen Parteien seit etwa zwanzig Jahren der Hand-
werkerfrage ihr lebhaftes Interesse zuwenden und auf
Mittel und Wege sinnen, wie man dem Auflösungsprozess
wirkungsvoll entgegentreten könnte.
Unzählige Reformvorschläge sind in dieser Hinsicht
gemacht worden. Sie lassen sich in zwei große Gruppen
zerlegen. Die eine Gruppe geht von materiellen Voraus-
setzungen aus und will die wirtschaftliche Lage des
Handwerks durch äußere Mittel ändern und bessern. Die
zweite Gruppe der Vorschläge richtet sich auf eine innere
Beform des Handwerkerstandes; sie will das geistige
und moralische Niveau des Standes heben, ihn zu einer
höheren Bildungsstufe emporführen und dem Stande da-
durch dieselbe einflußreiche Bedeutung für unser ganzes
Volksleben verschaffen, die er im 15. u. 16. Jahrhundert
in unserm Vaterlande thatsächlich gehabt hat.
Die äußeren Mittel, durch die man das Handwerk
wieder kräftigen und zur erfolgreichen Konkurrenz mit
dem kapitalistischen Großbetriebe befähigen will, gehen
vor allem dahin, die Handwerker zu einer einheitlichen,
fest geschlossenen Interessengemeinschaft zu organisiren.
Die Gewerbeordnung vom Jahre 1869 hatte das Klein-
gewerbe, das den Staatsschutz am meisten brauchte, in
dem ausbrechenden Wirtschaftskampi'e mit der Groß-
19
DAS KUNSTGEWERBE ALS NÄHRQUELLE FÜR DAS HANDWERK.
VON DR. ERNST GHO'M IN LEIPZIG.
H IR leben in einer aufgeregten,
gährenden Zeit, wo die Gegen-
sätze mit aller Macht aufeiii-
anderplatzen, und das historisch
Gewordene, vor allein der deut-
sche Mittelstand seine Lebens-
kraft beweisen soll. Die kapita-
listische Großindustrie und das
Proletariat sind die beiden ge-
waltigen Mühlsteine, zwischen die der arbeitende Mittel-
stand etwa seit einem Menschenalter geraten ist. Der
Bauernstand und der Handwerkerstand, diese beiden
mächtigsten Grundpfeiler des nationalen und wirtschaft-
lichen Lebens, haben unter dem Zerreibungsprozess am
meisten zu leiden gehabt, und sie kämpfen und ringen
mit allen Mitteln, um aus dieser gefährlichen Lage zwischen
zwei rücksichtslos vordringenden Gewalten herauszu-
kommen.
Es handelt sich hierbei um einen Kampf ums Dasein,
aber nicht allein um das eigene Dasein, um die wirt-
schaftliche Selbständigkeit des arbeitenden Mittelstandes,
sondern vor allem auch um die sichere Grundlage unsrer
bürgerlichen und staatlichen Einrichtungen. Ein Staat.
der diese gefährlichen Zustände nicht einsähe und für
die Lebensfähigkeit des ruhigen sesshaften Mittelstandes,
vor allem des Handwerkerstandes, nichts thäte. würde
Kunstgewerbeblatt. N. V. VI. H. 8.
(Nachdruck verboten.)
die festeste Stütze seines Baues unwiederbringlich ver-
lieren. Kein "Wunder, dass der Staat und auch die meisten
politischen Parteien seit etwa zwanzig Jahren der Hand-
werkerfrage ihr lebhaftes Interesse zuwenden und auf
Mittel und Wege sinnen, wie man dem Auflösungsprozess
wirkungsvoll entgegentreten könnte.
Unzählige Reformvorschläge sind in dieser Hinsicht
gemacht worden. Sie lassen sich in zwei große Gruppen
zerlegen. Die eine Gruppe geht von materiellen Voraus-
setzungen aus und will die wirtschaftliche Lage des
Handwerks durch äußere Mittel ändern und bessern. Die
zweite Gruppe der Vorschläge richtet sich auf eine innere
Beform des Handwerkerstandes; sie will das geistige
und moralische Niveau des Standes heben, ihn zu einer
höheren Bildungsstufe emporführen und dem Stande da-
durch dieselbe einflußreiche Bedeutung für unser ganzes
Volksleben verschaffen, die er im 15. u. 16. Jahrhundert
in unserm Vaterlande thatsächlich gehabt hat.
Die äußeren Mittel, durch die man das Handwerk
wieder kräftigen und zur erfolgreichen Konkurrenz mit
dem kapitalistischen Großbetriebe befähigen will, gehen
vor allem dahin, die Handwerker zu einer einheitlichen,
fest geschlossenen Interessengemeinschaft zu organisiren.
Die Gewerbeordnung vom Jahre 1869 hatte das Klein-
gewerbe, das den Staatsschutz am meisten brauchte, in
dem ausbrechenden Wirtschaftskampi'e mit der Groß-
19