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1892.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 9.
268
ab. Die schlanken Körper selbst sind steif und
wie erstarrt, der Brustkasten eingezogen, der
Kopf vornüberhängend. Ueber die geschlitzten
Augen," deren Winkel sämmtlich in einer Linie
liegen, sind die oberen Lider weit
heruntergezogen, der Mund zeigt,
zumal bei den Frauen, fast weiche,
leicht lächelnde Lippen, der Bart ist
überaus fein gestrichelt, setzt nicht
scharf gegen die Wangen ab und läuft
in kleine knotenartige Röllchen aus.
Gerade für die Skulpturen von
Chartres hatten die älteren fran-
zösischen Archäologen, Montfaucon
an der Spitze, die Behauptung er-
hoben, sie stellten merowingische
Könige dar und seien gleichzeitige
Skulpturen, dem VIII. bis X. Jahrh.
angehörig. Montfaucon selbst hatte
den Königsfiguren seiner Kathe-
dralen ziemlich willkürlich Namen
gegeben. Noch Lenoir folgte ihm, er
setzte die Figuren allerdings schon
ins XL Jahrh., nach ihm stellten die
Skulpturen in Chartres die Gründer
der älteren Kirche dar, Chlodwig,
Clotilde, Childebert, Ultrogothe,
Fredegonde, Clodomir, Clothar I.,
Pippin, Ludwig d'Outremer, Lud-
wig III., Hugo Capet, Constantin
d'Arles, König Robert. Die Behaup-
tung Montfaucons, dafs sie von einer
der früheren Kathedralen herrühren
möchten, der 858 durch die Nor-
mannen oder der 1020 durch den
Blitz zerstörten, war unhaltbar, weil
eben die Figuren mit den Säulen
und damit mit dem ganzen Portal
aus einem Stück gearbeitet waren.
Sie entstammen alle dem vierten
Bau, dem Bau Fulberts, der im Jahre
1111 begonnen und zwischen 1160
und 1170 abgeschlossen ward. Der
Vergleich mit den stilistisch ver-
wandten Figuren von Corbeil und
Le Mans zwingt uns, die Portale
ganz an den Beginn der Bauten Fulberts zu
setzen. Die Kathedrale brannte 1194 nieder,
nur die Portale blieben erhalten und wurden
wieder für den Neubau verwandt, mit den beiden
schlanken Thürmen. Vor allem ist es le clocher-
vieux, das Meisterwerk Berengars, den als eccle-
W
Fig 1.
Königsfigur von Corbeil.
siae arfificem bonum das Obituar von Chartres
nennt, der König der Thürme, wie ihn Viollet-
le-Duc getauft, der von dem Prachtbau Bischof
Fulberts und seinen graziösen und doch kräf-
tigen Formen eine lebhafte Vorstel-
lung zu geben vermag.
,Ce temple est merveilleux en son
architecture,
Merveilleux en son art, non moins
qu'en sa strueture,
Merveilleux en dedans, merveil-
leux en dehors,
Et merveilleux enfin dans tout son
vaste corps.'
heifst es in einem alten Gedichte
von Vincent Sablon.4) Aus dem Be-
ginn des XII. Jahrh. stammt die
Fassade, stammen die Königsfiguren
der Portale. Die durch Lassus be-
gonnene, durch Boeswillwald fort-
gesetzte Restauration hat nur wenig
an ihnen zu ergänzen gehabt. Erst
die Forschung der letzten Jahr-
zehnte hat ihnen die Bezeichnung
biblischer Könige wiedergebracht.
Die Königsfiguren von Chartres,
die die ifcole chartraine der fran-
zösischen Plastik einleiten, stehen
wieder nahe jener grofsen Gruppe
plastischer Arbeiten Aquitaniens, die
vielleicht am besten von dem letz-
ten Geschichtsschreiber der Gothik,
Louis Gonse, charakterisirt worden
ist als die grofse romanische aqui-
tanische Schule avec un fort appoint
bourguignon ou mieux clunisien.5)
Die Verwandtschaft mit den aqui-
tanischen Skulpturen zu Saint-Sernin
de Toulouse u. Moissac liegt auf der
Hand; die burgundischen Arbeiten,
vor allem Vezelay, Charlieu, Avalion
haben eine gröfsere schlangenartige
Bewegtheit der langen Gestalten
voraus. Zeitlich eröffnen die Reihe
unserer Königsfiguren die Bilder
von den Portalen von Corbeil und
die gleichzeitigen und stilistisch fast überein-
stimmenden von Saint-Loup de Naud, in der
*) Vincent Sablon »Auguste et vinerable eglise
de Chartres« (Chartres 1714).
6) Gonse »L'art gothique« p. 413,
1892.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 9.
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ab. Die schlanken Körper selbst sind steif und
wie erstarrt, der Brustkasten eingezogen, der
Kopf vornüberhängend. Ueber die geschlitzten
Augen," deren Winkel sämmtlich in einer Linie
liegen, sind die oberen Lider weit
heruntergezogen, der Mund zeigt,
zumal bei den Frauen, fast weiche,
leicht lächelnde Lippen, der Bart ist
überaus fein gestrichelt, setzt nicht
scharf gegen die Wangen ab und läuft
in kleine knotenartige Röllchen aus.
Gerade für die Skulpturen von
Chartres hatten die älteren fran-
zösischen Archäologen, Montfaucon
an der Spitze, die Behauptung er-
hoben, sie stellten merowingische
Könige dar und seien gleichzeitige
Skulpturen, dem VIII. bis X. Jahrh.
angehörig. Montfaucon selbst hatte
den Königsfiguren seiner Kathe-
dralen ziemlich willkürlich Namen
gegeben. Noch Lenoir folgte ihm, er
setzte die Figuren allerdings schon
ins XL Jahrh., nach ihm stellten die
Skulpturen in Chartres die Gründer
der älteren Kirche dar, Chlodwig,
Clotilde, Childebert, Ultrogothe,
Fredegonde, Clodomir, Clothar I.,
Pippin, Ludwig d'Outremer, Lud-
wig III., Hugo Capet, Constantin
d'Arles, König Robert. Die Behaup-
tung Montfaucons, dafs sie von einer
der früheren Kathedralen herrühren
möchten, der 858 durch die Nor-
mannen oder der 1020 durch den
Blitz zerstörten, war unhaltbar, weil
eben die Figuren mit den Säulen
und damit mit dem ganzen Portal
aus einem Stück gearbeitet waren.
Sie entstammen alle dem vierten
Bau, dem Bau Fulberts, der im Jahre
1111 begonnen und zwischen 1160
und 1170 abgeschlossen ward. Der
Vergleich mit den stilistisch ver-
wandten Figuren von Corbeil und
Le Mans zwingt uns, die Portale
ganz an den Beginn der Bauten Fulberts zu
setzen. Die Kathedrale brannte 1194 nieder,
nur die Portale blieben erhalten und wurden
wieder für den Neubau verwandt, mit den beiden
schlanken Thürmen. Vor allem ist es le clocher-
vieux, das Meisterwerk Berengars, den als eccle-
W
Fig 1.
Königsfigur von Corbeil.
siae arfificem bonum das Obituar von Chartres
nennt, der König der Thürme, wie ihn Viollet-
le-Duc getauft, der von dem Prachtbau Bischof
Fulberts und seinen graziösen und doch kräf-
tigen Formen eine lebhafte Vorstel-
lung zu geben vermag.
,Ce temple est merveilleux en son
architecture,
Merveilleux en son art, non moins
qu'en sa strueture,
Merveilleux en dedans, merveil-
leux en dehors,
Et merveilleux enfin dans tout son
vaste corps.'
heifst es in einem alten Gedichte
von Vincent Sablon.4) Aus dem Be-
ginn des XII. Jahrh. stammt die
Fassade, stammen die Königsfiguren
der Portale. Die durch Lassus be-
gonnene, durch Boeswillwald fort-
gesetzte Restauration hat nur wenig
an ihnen zu ergänzen gehabt. Erst
die Forschung der letzten Jahr-
zehnte hat ihnen die Bezeichnung
biblischer Könige wiedergebracht.
Die Königsfiguren von Chartres,
die die ifcole chartraine der fran-
zösischen Plastik einleiten, stehen
wieder nahe jener grofsen Gruppe
plastischer Arbeiten Aquitaniens, die
vielleicht am besten von dem letz-
ten Geschichtsschreiber der Gothik,
Louis Gonse, charakterisirt worden
ist als die grofse romanische aqui-
tanische Schule avec un fort appoint
bourguignon ou mieux clunisien.5)
Die Verwandtschaft mit den aqui-
tanischen Skulpturen zu Saint-Sernin
de Toulouse u. Moissac liegt auf der
Hand; die burgundischen Arbeiten,
vor allem Vezelay, Charlieu, Avalion
haben eine gröfsere schlangenartige
Bewegtheit der langen Gestalten
voraus. Zeitlich eröffnen die Reihe
unserer Königsfiguren die Bilder
von den Portalen von Corbeil und
die gleichzeitigen und stilistisch fast überein-
stimmenden von Saint-Loup de Naud, in der
*) Vincent Sablon »Auguste et vinerable eglise
de Chartres« (Chartres 1714).
6) Gonse »L'art gothique« p. 413,