Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für christliche Kunst — 10.1897

DOI Artikel:
Firmenich-Richartz, Eduard: Hugo van der Goes: eine Studie zur Geschichte der altvlämischen Malerschule, [1]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3832#0155

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
227

1897. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 8.

228

der Welt und des Menschen gründet sich nicht
auf allgemeine Regeln, auf eine umfassende
Einsicht in die Gesetzmäfsigkeit der Erschei-
nungen. Durch liebevolles Versenken in die
Betrachtung der Einzelformen gelangte er zu
ausgeprägtestem Individualismus. Die Schönheit,
welche in der Harmonie des Aufbaues, in der
Veredlung der Formen, im weichen Flufs der
Contouren besteht, blieb ihm fremd. Statt des
theoretischen Studiums der Anatomie, Perspek-
tive, Optik, hielt er sich stets direkt an sein
Vorbild, blickte hinaus in die unerschöpfliche
Natur seiner Umgebung. Der herbe Reiz der
Ursprünglichkeit mufs uns in seinem Werk für
die Abwesenheit der Eurhythmie und Grazie
entschädigen. Die aufrichtige Hingebung und
Ergriffenheit der acht menschlichen Theilnehmer
verleiht dieser Anbetung des neugeborenen
Christkindes eine tiefempfundene religiöse Weihe.
Die Macht eindringlicher Individualisirung er-
hebt die Bildnifsfiguren der Donatoren und deren
Patrone zu monumentalen Charakteren. Die
für niederländische Tafeln aufsergewöhnlichen
Dimensionen stellten erhöhte Anforderungen an
die Gestaltungskraft des Malers. Seine Figuren
fassen Wurzeln im Gedächtnifs des Betrachters;
sie haben sich ihre Wirkung ungeschwächt er-
halten, trotz aller Unbill, welche die Stücke
durch Verputzen und Uebermalung erlitten.

Im Mittelbilde kniet Maria in Andacht ver-
sunken vor dem neugeborenen Jesusknaben, den
sie in ehrfurchtsvoller Scheu nicht zu berühren
wagt. Ein Strahlenkranz, der das nackte Kind
umgibt und der Lichtschein, welcher von dem
zappelnden kleinen Körper am Boden ausgeht,
deuten auf seine überirdische Herkunft. Mit aus-
drucksvollen Geberden des Staunens über das
göttliche Geheimnifs der Menschwerdung ver-
ehren schmächtige Engel, an denen der Maler
allzusehr mit dem Abglanz himmlischer Schön-
heit kargte, voll Inbrunst den Erlöser, andere
schweben auf schillernden Fittichen herab. Freu-
dige Ueberraschung erfüllt die Gruppe der an-
betenden Hirten. Doch in diesen gutmüthigen
derben Gestalten kommt bei der eingehenden
Schilderung der Situation auch ein kerniger Humo-r
unbewufst zum Durchbruch. Mit dem Lächeln
der Befriedigung auf den wetterfesten, etwas be-
schränkten Gesichtszügen beugt der alte Hirt
ungelenk das Knie vor dem neuerstandenen
Heiland; sein Nachbar breitet in stummer Be-
trachtung die Arme aus, während ein jüngerer

Genosse in täppischer Neugier über sie weglugt,
Augen und Mund bei solchem Anblick gewaltig
aufreifsend. In gestrecktem Lauf kommt ein
vierter Hirt herbei, der sich soeben noch an
den Tönen seines Dudelsacks ergötzte, aber die
Anschauung des göttlichen Wunders auf keinen
Fall versäumen möchte.

Ganz zur Linken, neben einer Säule stehend,
hat St. Joseph die schwieligen Hände zum Gebet
gefaltet, alt und grämlich gleicht er einem
vlämischen Bürgersmann, den die Sorgen des
Lebens hart anfafsten. Ochs und Esel als treue
Begleiter fehlen natürlich nicht. Aus der ver-
fallenen Ruine, dem Ort der Handlung, blickt
man im Hintergrunde auf ein romanisches
Gebäude und die Häuser eines alterthümlichen
Städtchens, die von der Morgensonne beschienen
sind. Zwei Frauen treten zur Gitterpforte herein,
vermuthlich Zelanie und die ungläubige Salome.3)
Weiterhin empfangen die Hirten auf Bergeshöhe
die Botschaft des Engels.

Alles Beiwerk, der goldgestickte Ornat der
Engel, die verstreuten Blumen und Halme, ganz
vorn Topfpflanzen und Strohbündel sind mit
minutiöser Sorgfalt der Natur nachgebildet.
Leider ist die Linearperspektive nicht recht ge-
lungen. Für die Darstellung des Vordergrundes
hat sich der Augenpunkt verschoben; er wurde
hier vom Maler zu hoch angenommen, so dafs
es den Anschein hat, als spiele der Vorgang
auf abschüssigem Terrain.

Auf den Flügeltafeln erscheint links die
imposante Gestalt des Apostels Thomas, der mit
feurigem Blick und beredter Geberde seinen
Schützling empfiehlt, neben ihm etwas vor-
gebeugt der greise Abt Antonius, der mit Span-
nung zum Christkind hinüberblickt. Vor seinem
Patron kniet Tommaso Portinari, der Stifter des
Altarwerkes, fast vergraben im weiten schwarzen
Prachtgewande, der bartlose, intelligente Kopf
mit den vornehm-verschlossenen Mienen des
grofsen Handelsmannes. Seine beiden Knaben
folgen ihm. Ihre schüchternen blassen Gesichter
zählen zu den köstlichsten Kinderportraits,
welche die vlämische Schule hervorbrachte. Mit
der vollen Frische einer Momentaufnahme ist
die verlegene Haltung der leicht gesenkten Köpf-
chen und der bängliche Blick der beiden Kinder
wiedergegeben, welche halb mechanisch ihre

3) Vergl. Protoevangelium St. Jacobi c. 19 und
Ilistoria de nativitate Mariae c. 18.
 
Annotationen