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Zeitschrift für christliche Kunst — 13.1900

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Schröder, Alfred: Spätgothik und Protestantismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.3912#0106

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151

1900.

ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 5.

152

Spätgothik auf diese negative Seite ihrer Entwicklung,
so erscheine sie allerdings als Verfall; aber das Wesen
der architektonischen Schöpfung sei in der Raum-
bildung zu suchen3), und nach dieser Seite hin sei
der Architektur der Spätgothik als positive Tendenz
das Bestreben eigen, den organischen Stil in einen
Raumstil umzubilden, in einen Stil, der in den Ver-
hältnissen, in der Vertheilung der Massen seine aesthe-
tische Wirkung sucht, die demgeniäfs vorwiegend im
Bereiche des Malerischen liegt. Der Grundgedanke
der neuen Raumschöpfung sei die Einheit und Gleich-
mäfsigkeit des Innenraumes; als Mittel dienen: Ver-
schmelzung des Chorbaues mit dem Langhaus und
Gleichstellung der Nebenschiffe mit dein Hauplschiff.
Daher greife das neue System die Form der Hallen-
kirche auf, die die Seitenschiffe zunächst in der llöhen-
dimension dem Mittelschiff gleichberechtigt anschliefst;
in der gleichen Absicht gehe man aber bald dazu
über, auch die Breitendiinension der inneren Raum-
ablheilungen einander anzunähern und zugleich die
trennenden Stützen auf die geringste Zahl und das
schlankste Mafs einzuschränken. Das Mittelschiff —
und damit auch die Längenachse — verliert so die
beherrschende Stellung, es schliefst sich mit den
SeitenschiiTen zu einem einheitlichen Räume zusammen,
worin alle drei Dimensionen in annähernd gleichem
Mafse zur Geltung kommen. Denn auch der Chor
wird abgellacht, mehr in die Breite als in die Tiefe
entwickelt, er ist mehr die Begrenzung des Gemeinde-
raumes als ein selbständiges Raumgebilde.

Dieser Wandel des Systems wird an einer Reihe
von Beispielen erläutert; besonders die sächsische
Spätgothik erfährt, nach dem Vorgange Gurlitts, eine
eingehende Würdigung im Sinne der angeführten Leit-
sätze. Aber ihren Ausgangspunkt habe die Schöpfung
des Kaumbildes von Suddeutschland genommen; die
Kreuzkirche in Gmünd (Württemberg) wird als der
bahnbrechende Bau und 1351, das Jahr der Grund-
steinlegung in Gmünd, als »das Geburtsjahr des
neuen Stiles« bezeichnet.

Nun hat freilich die Ansicht, dafs sich m der Hallen-
kirche der Spätgothik ein Raumstil ankündige, auch ihre
gewichtigen Gegner, die hartnäckig genug sind, zu mei-
nen, es handle sich hier vorerst immer noch um weiter
nichts als eine unbewiesene Behauptung4). Lassen wir in-
des d iese vorwiegend aesthetische Frage und — was damit
zusammenhängt — die prinzipielle Erörterung über das
Verhältnifs der Spätgothik zur Renaissance.s) Wenden

") Vgl. Schmarsow »Das Wesen der architekto-
nischen Schöpfung« (Leipzig 1894).

4) So neuestens Gust. v. Bezold »Die Bau-
kunst der Renaissance in Deutschland, Holland, Bel-
gien und Dänemark« (Stuttgart 1900) S. 7.

•'') Darüber hat sich unterdessen Schmarsow
selbst in einer grundlegenden Abhandlung geäufserl,
die in den »Berichten über die Verhandlungen der
k. sächs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig, philolog.-hist. Cl.«
öl. Band 1899,41 unter dem Titel »Reformvorschläge
zur Gesch. d. deutschen Renaissance« veröffentlicht
ist. Dazu hat G. Dehio in der »Kunstchronik«
N. F. XI. (1899/1900), Nr. 18 und 20 Stellung ge-
nommen. Schmarsow erwidert darauf in Nr. 27
der »Kunslchronik«; vergl. auch IL A. Schmid
»Ueber den Gebrauch des Wortes Renaissance« in
»Kunstchronik« Nr. 30.

wir uns den historischen Beziehungen zu, in die Haenel
das neue System zu reformatorischen Ideen setzt.

Die Raumidee der Spätgothik wird nämlich mit
geistigen Strömungen, mit „Fortschritten vom geistes-
geschichtlichen Standpunkt aus" in ursächlichen Zu-
sammenhang gebracht. „Von innen heraus", aus dem
Glaubensleben, dem Nährboden der christlichen Kunst,
habe die Gothik die neuen Anregungen empfangen;
ein „reformatorischer" Zug liege als treibendes Motiv
dem Wechsel der künstlerischen Absichten zu Grunde.
Das Verlangen nach »freier persönlicher (!) Bethä-
tigung des Glaubens und ungehindertem Eingehen
auf die Thatsachen der göttlichen Lehren« habe
die weiten, klaren, lichten Verhältnisse und die
schlanken Pfeiler geschaffen, habe die Predigt zum
Mittelpunkt des Gottesdienstes gemacht und damit
dem Gemeindehaus das Uebergewicht über den Chor-
bau gegeben. Die Gemeinde will »den ganzen Raum
souverän beherrschen«, für sie nur und »als ihr Ver-
ordneter« soll der Priester die goltesdienstlichen Hand-
lungen vollziehen; darum mufs der Chorraum, diese
»Erinnerung an die Gröfse klerikaler Macht«, seiner
selbständigen Bedeutung entkleidet und mit dem Ge-
meindehaus in eins verschmolzen werden. An die
Stelle „mystischer Träumerei" und „orthodoxer Ge-
bundenheit" tritt das „logisch-strenge" Erfassen des
göttlichen Wortes, ein Streben nach „Klarlegung und
Popularisierung aller kirchlichen Handlungen"; daher
die Lichtfülle, die „das ganze Gefüge des Baues in
jeder Einzelheit klar hervortreten läfst", die „natür-
liche lichte Steinfarbe", die Anordnung von Emporen,
die im Verein mit den abgeflachten Gewölbebildungen
der Spätzeit den Horizontalismus betonen und damit
einem „gesunden Empfinden" Ausdruck geben, näm-
lich dem Verlangen nach „Rückkehr zum Menschlich-
Natürlichen im Gegensatz zu der transcendentalen
Verstiegenheit" der Hochgothik.0) Das System der
spätgolhischen Hallenkirche wird so zum architekto-
nischen Ausdruck des Umschwunges, der im religiösen
Fühlen der Zeit vor sich ging: „Der nahende
Protestantismus" kündigt sich an in dieser Umge-
staltung der,,Processionskirche" in die „Predigtkirche".

„Es wäre wünschenswerth, meint Gurlitt,7) dafs
die Kunstgeschichte den Grundrifsformen mit der
Absicht nachginge, sie als Ergebnifs der kirchlichen
Strömungen zu erklären. Sie würde die Hallenchöre
des XIII. Jahrh., die Hallenkirchen des XIV., die
freiere, offenere Raumgestaltung zu allen Zeiten und
Orten gepaart finden mit einer freieren wissenschaft-
lichen Richtung und die dämmernden, lichtarmen,

6) Zu so prinzipieller Bedeutung läfst selbst Haenel
die Emporen nicht konsequent sich versteigen; S. 82
werden wir durch die Versicherung beruhigt, dafs
sich die Entstehung der Emporen »doch wesentlich
auf praktische Gründe zurückführen läfst«. Auch das
Abflachen der Decke hätte nach S. 105 einen prak-
tischen Zweck verfolgt, »das Verhallen des Tones
in den Wölbungen zu vermeiden«, eine bei „der
führenden Stellung des gesprochenen Wortes" von
selbst „sich ergebende Notwendigkeit", von der
freilich die undankbare Renaissance, die doch auf
die Predigt noch mehr Gewicht legen mufste, eben-
sowenig überzeugt war wie davon, dafs sie, als ein
Raumstill lediglich das Erbe der Spätgothik hätte
anzutreten brauchen.

7) »Kunst und Künstler« 64.
 
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