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Zeitschrift für christliche Kunst — 20.1907

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Moeller, Ernst von: Die Wage der Gerechtigkeit, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4119#0219

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349

1907. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 11.

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lieh. Der Gedanke des Gebrauchs der Wage,
also des Wagens, macht sich gleichfalls geltend.
In dieser Hinsicht aber wäre es falsch, mit
Lessing bloß daran zu denken, daß „man"
gerecht ist, wenn „man" die Wage recht braucht.
Die Wage der Gerechtigkeit hat in vollerem
Sinn, als Lessing zugeben wollte, den Charakter
des Instruments, des Werkzeugs. Die Gerechtig-
keit selbst ist es, die die Wage braucht und
mit ihr wägt. Und daneben tritt die Vor-
stellung, die Lessing geltend macht, in den
Hintergrund. Denn es ist allbekannt, daß jeder,
der gerecht sein will, erst seine Erwägungen
anstellt, ehe er wägt. Das seiner selbst be-
wußte Handeln und die vorausgehende Über-
legung ist notwendiger Bestandteil des Begriffs
der Gerechtigkeit. Und die Wage stellt das
geistige Wägen dar, das der Entscheidung der
Gerechtigkeit vorausgeht.

Wenn man aber die Gerechtigkeit wägend
abbildet, so heißt das zugleich, daß sie sich
zur Erzielung eines absolut gerechten Resultats
eines Werkzeugs, eines Instruments, einer Ma-
schine bedient, auf ihr eigenes Meinen und
Belieben, ihre Wünsche und Ansichten nach
Möglichkeit verzichtet und statt dessen einen
Apparat braucht, der selber durch und durch
gerecht ist. Die Benutzung der Wage macht die
Richtigkeit der Entscheidung, die die Gerechtig-
keit fällt, unabhängig von richterlichem Ermes-
sen. Sie zeigt die Dinge, wie sie an sich sind,
in ihrer wahren Natur und konstatiert, wie die
Sache bei Licht betrachtet aussieht. Es ist der
Ausschluß aller Willkür, der hier als Ideal vor-
schwebt und mit Hilfe technischer Vorrich-
tungen und maschineller Kunstgriffe tadellos
verwirklicht werden soll. Alle Rechtsprechung
bleibt stets unvollkommen. Unter einer Anzahl
von Urteilen ist stets ein erheblicher Prozent-
satz ungerechter Urteile. Unaufhörlich wider-
sprechen sich die verschiedenen Instanzen, und
immer wieder treten Fälle ein, in denen ge-
rechte Entscheidungen der unteren Instanzen
irrtümlich und widerrechtlich durch die obere
Instanz umgestoßen worden, so daß man es
keinem Laien verdenken kann, wenn er das
Prozessieren mit dem Lotteriespiel vergleicht,
und keinem Richter, wenn er stolz darauf ist,
daß sein subjektives Belieben trotz aller
Schranken der Gesetzgebung und Rechtsordnung
so weiten Spielraum besitzt. Von diesem
schwankenden Boden irdischer Rechtspflege |

flüchtet sich das Rechtsgefühl empor zu einem
Ideal, das von richterlicher Beschränktheit frei
ist und das Recht, welches war und ist und
sein wird, durchsetzt und das Gegenteil, das
Unrecht, niederkämpft.

Von hier aus erklärt sich leicht, was die
Gerechtigkeit in den Schalen ihrer Wage wägt:
tausenderlei verschiedene Dinge. Bald können
es Handlungen guter oder böser Art, bald
können es Ansprüche oder Interessen pro-
zessierender Parteien, bald Schuld und Un-
schuld, bald Strafmilderungs- oder Straf-
schärfungsgründe, bald Einrichtungen und Zu-
stände, bald Gedanken und Meinungen, bald
Tugenden, bald Laster, bald Reformen, bald
Revolutionen, bald eine Sache, bald eine Person,
bald ein Mensch, bald eine Seele, bald ein
Engel, bald ein Teufel, kurz alles sein, was
nur immer das Prädikat gerecht oder ungerecht
verträgt. Die Gerechtigkeit wägt, um die Grenze
zu finden, die das Recht von dem Unrecht
scheidet. In dem ewig wogenden Kampf
zwischen Recht und Unrecht sinkt schließlich
immer die schwerere Schale des Rechts, während
die andere steigen und damit dem Sieg des
Rechts dienen muß. In der Welt und in der
Geschichte waltet eine ewige Gerechtigkeit, die
sich schließlich immer und überall behauptet.
Alle jene Menschen und Dinge, die sie wägt,
vergehen in schnellem Wechsel. Sie ver-
schwinden so schnell, wie sie kamen. Aber
sie selbst bleibt und setzt sich, tausendfach
bedroht und bekämpft, alsbald stets wieder ins
Gleichgewicht.

Damit erledigt sich endlich auch die Frage,
ob ein einheitlicher Gewichtsmaßstab vorhanden
ist, den die Gerechtigkeit zum Wägen benutzt.
Sie wendet nicht immer ein und denselben,
sondern ganz verschiedene Maßstäbe an, ab-
solute und relative. Daß das positive Recht
nicht jeweils ihr Gewichtsmaßstab ist, folgt
schon daraus, daß das Recht selbst Gegenstand
der Wägung sein kann. Die Gerechtigkeit greift
nicht immer zur letzten Quelle ihrer Macht
zurück. Aber in oberster Instanz läßt sie nur
ihre eigene Idee entscheiden. So können wir
zusammenfassend sagen: Die Wage ist Attribut
der Gerechtigkeit, weil sie wegen ihrer Eigen-
schaft gerecht zu sein ein untrügliches Mittel
zur Entscheidung der Frage „gerecht oder un-
gerecht?" symbolisch darstellt.

Berlin.

Erns t v. Moeller.
 
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