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Zeitschrift für christliche Kunst — 22.1909

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Lüthgen, Eugen: Entwicklungsmomente der spätgotischen Holzplastik in Oberbayern
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https://doi.org/10.11588/diglit.4153#0038

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39

1«09. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 2.

40

Entwicklungsmomente der spätgotischen Holzplastik in Oberbayern.

Mit 5 Abbildungen.

it der Steigerung der technischen
Fähigkeiten eines Künstlers geht
die Vervollkommnung der Formen-
sprache sowie die harmonische
Lösung künstlerischer Probleme Hand in Hand.
Doch stets nur bis zu einer bestimmt gezogenen
Grenze. Denn immer wieder vollzieht sich
dasselbe Spiel, daß bei ausgereifter Technik
der Künstler zu vergessen beginnt, daß die
Technik nur Mittel zum Zweck und nie um
ihrer selbst willen da ist. Es werden in solchen
Zeiten die von Mit- und Nachwelt angestaunten
Werke technischer Kunstfertigkeit
geschaffen, die nur möglich sind,
weil noch das Fortleben der guten,
alten Tradition es erlaubt, dem
kühnen Wollen der Phantasie
die Verwirklichungsmöglichkeit zu
gewährleisten.

Solche Perioden überstarker
Betonung der technischen Fähig-
keiten bei gleichzeitiger Erschlaf-
fung der künstlerischen Produkti-
vität folgen jedesmal dem Höhe-
punkt einer Stilentwicklung. Daher
sprechen die Kunstwerke seiner
beginnenden Verfallszeit nicht
selten das aus, was die eigentliche
Blütezeit gewollt hat. Nur in
einer modifizierten Art, schon
durchtränkt von den Formen, die
durch die Geschmacksrichtung
einer neuen, kommenden Zeit be-
stimmt sind.

Ein unkünstlerisches Merkmal haftet stets in
gleicher Weise diesen einem Höhepunkt der
Entwicklung folgenden Kunstperioden an,
nämlich die Tendenz, ohne Rücksicht auf den
Charakter des Materials, formelle Probleme
lösen zu wollen, die über die Ausdrucks-
möglichkeit des Materials hinausgehen. Man
übersieht dann, daß jedes Material in bezug
auf die in ihm ruhenden künstlerischen Dar-
stellungsmittel beschränkt ist. Hauptsächlich
gilt dies für das technische Gebilde, für die
sogenannten kunstgewerblichen Erzeugnisse.
„Die abstrakte Form" sagt, Lipps in seiner
Ästhetik IL S. 517, in welche das technische
Gebilde gebracht wird, ist zunächst die Heraus-
sonderung der für das Ganze des Kunstwerkes

Abb. 1

bedeutsamen Funktionen aus dem Ineinander
der Funktionen oder Funktionsmöglichkeiten,
welche die materielle Masse in sich schließt,
die Heraushebung und Aktualisierung von
Kräften, die in der Masse augenblicklich liegen,
nämlich jedesmal derjenigen, die innerhalb
des Kunstwerkes zu einem einheitlichen und
in sich verständlichen Spiel der Kräfte sich zu-
sammenordnen und zusammenwirken können.
Für Werke der bildenden Künste gilt das-
selbe, da auch bei ihnen nur solche Formen
wahrhaft ästhetisch wirken können, die mit
der Natur des Materiales als nicht
in Widerspruch stehend erscheinen.
Denn „das Material gibt zunächst
die möglichen Grundgedanken
oder das logische Gerüst des
Ganzen. Der Sinn und Zweck
des Ganzen dagegen bestimmt
die Auswahl und den Grad der
Betonung dieses oder jenes Grund-
gedankens".1)

In dem Augenblicke, in dem
diesem • ursprünglichsten aller
künstlerischen Erfordernisse ent-
gegengearbeitet wird, beginnt der
künstlerische Verfall. Es will der
Künstler dann gleichsam be-
weisen, daß er in seinen tech-
nischen Fähigkeiten eine Kraft
besitzt, die eine Schranke des
Materiales nicht mehr kennt. Der
Künstler leugnet die im Material
begründete Bedingtheit der Form.
Der allgemeine Charakter solcher Kunst-
werke äußert sich in ihrer unruhigen Wirkung,
in der Entwicklung einzelner hervorstechender
Motive auf Kosten des Gesamteindruckes so-
wie in dem schillernden Glänze einer effekt-
vollen künstlerischen. Gestaltung. Daher sucht
man die Steigerung der Intensität der künst-
lerischen Wirkung in einer gewissen über-
wältigenden Größe oder Monumentalität, oder
aber in einer verschliffenen, verfeineiten Eleganz
mit einem Einschlag graziöser Zierlichkeit.
Das Merkmal des über das gewöhnliche Hinaus-
gehenden, des Übertriebenen, eignet allen diesen
Werken.

1) Th. Lipps, .Ästhetik", IL S. 519.
 
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