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Zeitschrift für christliche Kunst — 23.1910

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Witte, Fritz: Über sogenannte "englische Stickereien" des XV. und XVI. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.4155#0150

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215

1910. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 7.

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herausgeschnitten sind, so, daß ein großer Teil
der trefflich gestickten Figuren und Ornamente
zur Hälfte und mehr verstümmelt ist. Mir
scheinen aber auch gewichtige Gründe direkt
gegen die Annahme de Farcys zu sprechen.
Die drei bereits angeführten Kasein zu Laurenz-
berg usw. wie die im Besitze de Farcys auf
Tafel 68 haben dieselben, außergewöhnlich
charakteristischen Kreuzstäbe: Christus am
Kreuze, neben den Kreuzarmen je ein Engel
in wagerechter, etwas gewaltsamer Haltung,
der das Blut in einem Kelche auffängt; ober-
halb des Kreuzes der hl. Geist in Gestalt einer
Taube, der Schwanz und Füße fehlen. Zu
Füßen des Kreuzes liegen verdorrende Ge-
beine, darunter in schwerfälligen Architekturen
die ungewöhnlich breit gezeichneten Figuren
Maria und Johannes, nicht, wie bei den
deutschen Stickereien kompositioneil vereinigt,
sondern einzeln untereinander stehend. Es
ist schwer, die sonderlichen Typen dieser
Figuren lokal festzulegen; der derbe Typ
spricht gegen Flandern oder den Niederrhein,
westfälisch ist er auch kaum, obwohl das eine
Meßgewand im Besitze einer westfälischen
Kirche ist. Die bekannten englischen Alabaster-
skulpturen des XV. Jahrh. sind ebenfalls ganz
anderer Art und, was mir bestimmend und
ausschlaggebend zu sein scheint, die Kasel
in Laurenzberg trägt die Stickermarke H • E
und die Jahreszahl 1563. Wer will um diese
Zeit stärkster religiöser Wirren an England
als Ursprungsland denken? Genien schreibt
in den Bau- und Kunstdenkmälern der Rhein-
provinz, Kreis Jülich, Seite 150 von der Kasel
in Laurenzberg: „Purpurkasel aus dem XIV.
Jahrh. (?) mit Stab aus dem Jahre 1563". Er
nimmt also verschiedene Entstehungsdaten an
für Grund und Stab. Das geht nicht wohl
an, schon mit Rücksicht auf die gleiche Kasel
ohne Datierung in Westfalen und die im
Besitze de Farcys. Stab und Grund sind
gleichzeitig. Ob aber auch von demselben
Sticker hergestellt, aus demselben Lande
stammend? Unser Chormantel redet wiederum
eine ganz andere Sprache. Bei ihm kann es
keinem Zweifel unterliegen, daß alles, da das
rein Ornamentale wie das Madonnenbild in der
Mitte aus einem Guß sind, von derselben
Hand herrührt. Die Madonna wie die
Engel sind ungewöhnlich fein und vornehm
in der Zeichnung wie in der Sticktechnik, wie
unsere gute Abbildung erweist. Stilistisch sind

sie um 1480 anzusetzen, und zwar mit dem
Mantel selbst. Nach England hinüber weist
gar nichts, im Gegenteil, die Madonna weist
auf nordfranzösischex Gebiete, wenn nicht gar
auf Flandern hin. De Farcy, Bock und eine
stattliche Reihe von Kunsthistorikern haben
unbedenklich, eigentlich aber ohne Angabe
durchschlagender Gründe, für England plädiert
als Entstehungsort für die ganze Gruppe von
Paramenten desselben Genres. Es ist richtig,
daß die Inventare englischer Kirchen schon
früh Paramente erwähnen, die mit Engeln
bestickt waren; wir finden solche aber auch
ebensowohl in französischen und deutschen
Inventaren und Kirchenkammern, so in Angers,
in Halberstadt, in der Sammlung Schnütgen,
in Xanten usf. Eigenartig ist den von uns
herangezogenen Paramenten die Verwendung
der sechsfiügeligen Cherubim, meistens mit den
Füßen auf Rädern stehend (nach Ezech. 1,
4—19). Dieses Motiv ist sehr alt, es findet
sich besonders häufig in Miniaturen und Elfen-
beinschnitzereien der Karolingerzeit und in
angelsächsischen Codices. Ich erinnere an
die phantastischen Darstellungen von Seraphim
auf der Tutilotafel von St. Gallen, in der
angelsächsische Kunstanschauungen noch einen
starken Einschlag geben. Ganz ähnliche
Bildungen der Cherubimgestalten finden sich
in der Darstellung der Berufung des Propheten
Isaias im Codex vatic. graec. 699.2) In genau
derselben Auffassung wie in unseren Para-
menten finden wir die Cherubim auf. der
Patene in Wüten, im Psalter der hl. Elisabeth
und im Dom zu Halberstadt neben dem
wunderbaren Triumphkreuz. Auch hier sind
sie in vier Flügel gehüllt, und ihre Füße stehen
straff und steif statuarisch auf Rädern. Das
Motiv kehrt öfters wieder in den Stickereien
englischer Provenienz aus dem XIV. Jahrh.
Als ältestes mir bekannt gewordenes Beispiel
eines gestickten Cherubim dieser Art führe
ich eine in haute lisse gefertigte Stola zu
Pontigny an, die um die Wende des XII.
Jahrh. entstanden sein dürfte. Unmittelbar
daran schließen sich zeitlich zwei Chormäntel
des XIII. Jahrh., der von Daroca im Museum
zu Madrid und ein weiterer in Kensington-
Museum. Beide weisen die charakteristischen
Engelsfiguren auf. Was aber wesentlich bei-

a) Abgeb. bei Kaufmann, »Handb. d. christl.
Archäologie«, Seite 419.
 
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