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Zeitschrift für christliche Kunst — 23.1910

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Witte, Fritz: Über sogenannte "englische Stickereien" des XV. und XVI. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.4155#0152

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219

1910. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 7.

220

Mäntel. Einzig die Stäbe der Meßgewänder
und die Stickerei auf dem abgebildeten Chor-
mantel können uns definitive stilistische An-
haltspunkte bieten für die örtliche Bestimmung.
Wie bereits gesagt, hat das Madonnenbild
nichts typisch Englisches, es geht auf Flandern
oder Nordfrankreich zurück. Das Bild ist
von derselben Hand gestickt wie die Orna-
mente, stilistisch weicht es um nichts von
ihnen ab, und Material wie Technik sind
genau dieselben. Die Kaselkreuze weichen
wesentlich von der Stickerei des Rauchmantels
ab; sie sind qualitativ bedeutend minder-
wertiger, in einzelnen Partien roh in der
Zeichnung. Breit und kurzgedrungen sind die
Figuren, die Köpfe breit und rund mit stark
betonten Augenpupillen. Die Architekturen
und Baldachine über den Figuren sind schwer-
fällig und erinnern in ihrer Struktur direkt an
Backsteinbauten. Charakteristisch sind die
gebrochenen Bögen mit geradem Abschluß
nach oben und durcheinander geschobenen
Stabprofilen. Die bei de Farcy abgebildeten
Stücke haben (Tafel 67 und 68) wohl die
Zinnenbekrönung, aber nicht die Bögen, die
Zeichnung der Figuren hat aber viel Ver-
wandtes mit denen der beiden in Deutschland
befindlichen Kasein. Allen gemeinsam aber
ist die verhältnismäßig rohe Zeichnung. Der
Monogrammist H • E des Gewandes in
Laurenzberg ist bislang unter den Stickern
nicht aufgetaucht; möglich ist aber auch, daß
Hausmarke und Signierung dem Donator ge-
hören. Unser Mantel wie auch sein Gegen-
stück im Kensington-Museum aus Marienbaum
unterscheiden sich darin wesentlich von allen
anderen Stücken gleicher Technik, daß den
Figuren eine weit bessere Zeichnung zugrunde
liegt, der zugleich auch die subtilere Aus-
führung entspricht. Augen, Nase und Mund
der Madonna sind ungemein zart in das
charakteristisch ovale Gesicht eingebettet, das
Haar fällt in langen Strähnen wohlgeordnet
und etwas zurückgeschlagen über die schlanken
Schultern, der Mantel legt sich fließend um
die Knie und gibt der auf breiter Bank
sitzenden Figur etwas stark Statuarisches, eine
breite, wuchtige Postierung. Ausschlaggebend
aber ist erst das Kind auf dem Schöße der
Mutter, die leicht mit dem Kopfe zum Kinde
niederschaut. Der Christusknabe trägt jenes

an den Hüften aufgeschlitzte Hemdchen, das
den Körper zum großen Teile freiläßt und
dem Kinde jenen possierlichen Ausdruck gibt,
der den Neujahrskindern eigen ist, wie sie um
die Wende des XV. Jahrh. in Cöln, am
Niederrhein und im Bereiche der flämischen
Kunstübung in großen Mengen hergestellt
wurden in Plastiken, Malereien und Holz-
schnitten, wie sie Dürer auch des öfteren in
seinen Folgen gezeichnet hat. Dazu steht
auch ganz im Einklang die innige Beziehung,
in der Mutter und Kind zueinander stehen,
wie sie so ganz der Natur abgelauscht erscheint.
Ganz auffällig ist die fast völlige Über-
einstimmung der Zeichnung mit der auf
einem kleinen flämischen Gobelin, der heute
in einer stillen Ecke der Appartamenti Borgia
im Vatikan hängt. Man könnte auf den Ge-
danken kommen, daß die Zeichnung wenigstens
bei beiden Stücken von ein und derselben
Hand gefertigt sei. Die breite Postierung
der Madonna, der flott gelegte Mantel, be-
sonders das volle ovale Gesicht mit dem vor-
nehm geordneten Haar und dem so fein
malerisch empfundenen Diadem sind hier wie
dort genau dieselben. Daran ist kein Zweifel,
daß ein niederrheinisch flämischer Künstler
den Entwurf lieferte zu dem Madonnenbild
auf unserem Mantel, einerlei, ob es mit
den Stickereien der anderen angezogenen
Stücke zusammengeht. Allerdings weisen
die Engel, welche die Madonna flankieren,
eine geringe Verschiedenheit von derselben
auf, speziell in der etwas mageren Behand-
lung der Köpfchen. Ob sie weiter süd-
wärts, • nach Nordfrankreich weisen, läßt
sich schwer bestimmen, da das Vergleichs-
material ziemlich dürftig ist; mir scheint
aber ein französischer Einschlag wahrschein-
lich. Die Möglichkeit, daß Paramentenstücke
dieser Art in verhältnismäßig ansehnlicher
Zahl nach Deutschland kamen, liegt für Frank-
reich ebenso nahe wie für England. Ich
möchte mich an den abgebildeten Chor-
mantel halten und seine Verschleppungs-
geschichte zur Zeit der französischen Revolution
auch für die verwandten Stücke annehmen.
Englische Arbeit ist der Mantel nicht,
seine Heimat ist Flamland oder Nord-
frankreich.

Köln. Fritz Witte.
 
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