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Zeitschrift für christliche Kunst — 24.1911

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Tafel II
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Humann, Georg: Neuzeitliche Kunstbestrebungen, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4275#0024

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21

1911. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 1.

22

Neuzeitliche Kunstbestrebungen.

I.

ie modernen Richtungen in der Kunst
haben, wie A. Kuhn in seiner inter-
essanten Schrift „Moderne Kunst-
und Stilfragen" bemerkt, Absonder-
Tollheiten, Ungeheuerlichkeiten,
Absurdes und Perverses in
Doch nimmt

lichkeiten,
Niedagewesenes

Überfülle gebracht (S. 10 u. 11).
er an, daß in der neuzeitlichen Kunst, doch
wohl ein lebensfähiger Keim vorhanden sei
(S. 11), allerdings in der Voraussetzung, daß
die Wurzeln wirklich in neuer Kultur und
Zeitströmung liegen, und er hofft, daß die un-
gesunden Wucherungen abgestoßen, das Gute
und Echte aber bleiben werde (S. 12 u. 16).
Zweifellos ist auch die moderne Kunst,
wenigstens zum Teil, ein Ergebnis der kultu-
rellen Entwicklung. Es bestehen aber mancherlei
Unterschiede zwischen früherer und jetziger
Kunstentwicklung. Soweit neben Kultur-
faktoren allgemeiner und sachlicher Art das
persönliche Element mitwirkte, waren es früher
vorzugsweise die Künstler, welche auf die
Richtung einwirkten. Jetzt, nachdem die
Kunstgeschichte als Wissenschaft einen uner-
wartet raschen und hohen Aufschwung ge-
nommen hat, unzählige Schriftsteller auf diesem
Gebiete sich betätigen, ist es vorzugsweise die
große Schar der Theoretiker, unter diesen
auch eine große Anzahl junger temperament-
voller, aber noch in ihrer Sturm- und Drang-
periode befindlicher Leute, welche -die Füh-
rung übernommen haben und den Praktikern
die Wege weisen. Es wird in Zeitschriften
und Tagesblättern unendlich viel über Kunst
geschrieben. Es kommen hinzu die zahlreichen
Ausstellungen und deren Besprechungen, welche
für die Künstler, besonders die in dürftiger
Lage befindlichen Anfänger, die sich nach
Aufträgen sehnen, von größter Wichtigkeit
sind. Die Bevormundung kann, wenn sie sich
im richtigen Geleise bewegt, in gewisser Hin-
sicht von Vorteil sein, aber einer steten ruhigen
und sachlichen Entwicklung vielfache Nach-
teile bringen. Das Neue muß allmählich
aus den Kulturverhältnissen heraus-
wachsen. Es ist leicht gesagt: Es darf durch-
aus nicht mehr nachgeahmt, es soll und
muß ein neuer Stil geschaffen werden! Wenn
von Theoretikern fortwährend in diesem Sinne
auf die Praktiker eingewirkt wird, so braucht

man sich nicht zu wundern, daß letztere in
der Sucht Neues zu schaffen, auch auf Abwege
geraten. Man sagt zwar, daß jede Übergangs-
zeit Absonderlichkeiten hervorgebracht habe.
Doch eine so gewaltige und schroffe Um-
wälzung, wie sie jetzt in verhältnismäßig kurzer
Zeit stattgefunden und zu allerlei Ungeheuer-
lichkeiten geführt hat, eine solche Revolution
ist noch zu keiner Zeit dagewesen!

Dann ist, wie auch Kuhn mit Recht be-
merkt (S. 30) unsere Kultur, soweit sie die
Quelle moderner Kunst ist, keine einheitliche.
Es bestehen sogar die schärfsten Gegensätze.
Der Mangel einheitlicher Merkmale in der
modernen Kunst, die Extreme und Auswüchse
sind daher auch aus diesem Grunde leicht
erklärlich. Leider werden die kulturellen
Gegensätze auch in der Zukunft nicht schwinden
und einer einheitlichen Entwicklung der Kunst
immerfort im Wege stehen!

Schließlich muß man sich fragen, ob in der
modernen Kultur das Gute, Hohe, Ideale
vorwiege? Denn nur aus einer im idealen
Sinne hochstehenden Kultur kann eine
gute und edle Kunst hervorgehen.
Wohl hat unsere Zeit Ideale gepflegt und
wertvolle Errungenschaften zu verzeichnen.
Doch der zunehmende Reichtum und an-
haltende Wohlstand hat zu Luxus, Verweich-
lichung und Ausschweifungen geführt. Auch
der wachsende Unglaube, die Verschärfung
der sozialen Gegensätze und die Gärung
und Verbitterung der Massen sind sehr be-
denkliche Zeichen der Zeit. Wen hätte nicht
die Verwilderung der Sitten, die weite Ver-
breitung der Schundliteratur mit Besorgnis
und Schrecken erfüllt? Zu der Schundliteratur
kann man auch viele weitverbreitete Witz-
blätter rechnen. Vom Text abgesehen, macht
sich in dem Bildschmuck dieser Zeitschriften
eine schreckliche Verrohung breit, eine „Ver-
pöbelung" der Kunst, wie sie von einem be-
kannten Schriftsteller mit Recht genannt ist.

Hätte man vor Jahrzehnten einzelne faule
Glieder des Volkskörpers abgeschnitten, so
würde er gesunden können; jetzt sind die großen
Massen schon viel zu sehr durchseucht, so daß
eine Rettung trotz mancher, in letzter Zeit sich
geltend machenden energischen Bestrebungen
edler Menschenfreunde kaum noch in den
Grenzen der Möglichkeit zu liegen scheint.
 
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